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Mitarbeiter der Deutschen Bahn Ag auf Präventionsstreife. Die sichtbare Anwesenheit von Sicherheitskräften in öffentlichen Verkehrsmitteln und im öffentlichen Raum kann das Sicherheitsgefühl erhöhen, wie eine Studie der Freien Universität zeigte. Auch die Vermeidung von "dunklen Ecken" trägt dazu bei, dass sich Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs sicherer fühlen.
© Marcus Ewers/ Deutsche Bahn AG

Öffentliche Sicherheit: „Die Frage ist: Wie sicher wollen wir leben?“

Das Forschungsforum Öffentliche Sicherheit der FU bereitet wissenschaftliche Erkenntnisse für den politischen Entscheidungsprozess auf. Ein Gespräch mit Professor Lars Gerhold über unterschätzte Gefahren, undurchschaubare Algorithmen und geopferte Freiheit.

Terroranschläge, Naturkatastrophen, Hackerangriffe – die öffentliche Sicherheit ist vielen Gefahren ausgesetzt. Kaum etwas beschäftigt die Menschen mehr als gesellschaftliche Bedrohungsszenarien, keine parteipolitische Agenda ohne das Thema. Doch was sind die richtigen Antworten auf die Herausforderungen? Und welche Einschränkungen wollen wir für unsere Sicherheit in Kauf nehmen? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich das Forschungsforum Öffentliche Sicherheit an der Freien Universität, das vor wenigen Tagen zehnjähriges Bestehen feierte. Ein Gespräch mit dem Leiter der Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Sicherheitsforschung und des Forschungsforums, Professor Lars Gerhold.

Warum wurde das Forschungsforum eingerichtet?
Das Forschungsforum ist das Ergebnis einer politischen Initiative. Im Jahr 2008 haben vier Bundestagsabgeordnete von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ein Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit gegründet, dem auch Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verbänden sowie Sicherheitsfachleute von Bund und Ländern angehörten. Ziel war es, eine breite gesellschaftliche Debatte anzustoßen über Gefahren für die öffentliche Sicherheit wie Pandemien, Naturkatastrophen, Stromausfälle oder Terrorgefahr. Das Gremium hat ein sogenanntes Grünbuch herausgegeben, das eine lange Liste von Fragen enthielt zu den Risiken und Herausforderungen auf diesem Gebiet. Die Frage war nur: Wer kann Antworten geben?

Schnell war klar, dass hier die Wissenschaft gefordert ist. Im Oktober 2009 haben wir deshalb an der Freien Universität Berlin unter der damaligen Federführung von Informatikprofessor Jochen Schiller und mit Unterstützung des Bundesbildungsministeriums das Forschungsforum Öffentliche Sicherheit gegründet.

Was ist die Aufgabe des Forschungsforums?
Das Forum soll die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus ganz unterschiedlichen Disziplinen der Sicherheitsforschung zusammentragen und für die Politik verständlich aufbereiten, aber auch Szenarien und mögliche zukünftige Entwicklungen bewerten sowie Empfehlungen geben – damit Politiker fundierte Entscheidungen treffen können. Wir haben damals relativ schnell gemerkt, dass das ein sehr weites Feld ist. Deshalb haben wir uns fokussiert und überlegt, an welchen Stellen es weiteren Forschungsbedarf gibt, um die Herausforderungen zu meistern. So haben wir etwa ein erstes Forschungsprojekt zu der Frage entwickelt: Wie kann die Bevölkerung in Deutschland im Krisenfall versorgt werden – zum Beispiel bei einem langen Stromausfall?

Was ist seitdem aufgebaut worden?
Wir sind schnell gewachsen und haben für viele Forschungsprojekte Drittmittel eingeworben, etwa zu den Themen Ernährungsnotfallvorsorge, Wetterwarnungen oder Überwachung im öffentlichen Raum. Im Jahr 2015 wurde ich auf die Professur für Interdisziplinäre Sicherheitsforschung an der Freien Universität berufen, an die das Forschungsforum angegliedert wurde. Derzeit sind wir 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die aus ganz unterschiedlichen Bereichen kommen. In meinem Team arbeiten Forscherinnen und Forscher aus der Informatik, Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft; ich selbst bin Sozialwissenschaftler und habe in Psychologie promoviert. Diese Vielfalt an Disziplinen ist extrem gewinnbringend, denn die Fragestellungen, mit denen wir uns beschäftigen, sind zu komplex, um sie allein aus einer disziplinären Brille heraus zu betrachten. Die Ergebnisse unserer Arbeit geben wir auch in einer eigenen „Schriftenreihe Sicherheit“ heraus, die öffentlich frei verfügbar ist.

Ihre Arbeitsgruppe ist am Institut für Informatik angesiedelt. Welche Rolle spielt die Künstliche Intelligenz in der Sicherheitsforschung?
Wir verlagern heute Sicherheitsverantwortung in großem Maß an technische Systeme und übertragen den Algorithmen gewissermaßen die Sorge dafür, den möglichen Straftäter zu erkennen, wenn er unsere Landesgrenze übertritt oder sich auf einem öffentlichen Platz bewegt. Diese technischen Lösungen sollen die Arbeit von Sicherheitskräften unterstützen, und das tun sie in vielen Fällen. Wir wissen aber auch, dass ich – wenn ich mich zehnmal, hundertmal, tausendmal auf die Unterstützung eines technischen Systems verlassen habe – diese Entscheidung irgendwann nicht mehr hinterfrage. Und natürlich arbeiten diese technischen Systeme nicht fehlerfrei. Denken Sie nur an die falsch-positiven Entscheidungen bei der Gesichtserkennung.

Wir machen uns abhängig von technischen Systemen, die derjenige, der sie einsetzt, oft nicht versteht. Ein Algorithmus – vor allem, wenn wir von selbstlernenden Systemen sprechen – ist für den Anwender eine Blackbox. Dennoch entscheiden wir mit der Anwendung dessen, was uns die Technik vorschlägt, über Menschen. Wir haben zum Beispiel in Bayern – und mittlerweile auch in anderen Bundesländern – ein Polizeiaufgabengesetz, welches es ermöglicht, bei einer drohenden Gefahr Menschen vorausschauend in Gewahrsam zu nehmen. Wollen wir es als freiheitliche Gesellschaft akzeptieren, dass Menschen möglicherweise aufgrund einer Falsch-positiv-Meldung zu Unrecht eine Zeit ihres Lebens im Gefängnis verbringen? Da kommen wir in Bereiche, über die wir diskutieren müssen, bevor wir all diese Dinge implementieren.

Im Zukunftslabor erklärt Sicherheitsforscher Roman Peperhover (rechts) Michael Kuffer, CSU-Bundestagsabgeordneter, und Benjamin Strasser (FDP, hinten) das Matchbox-Spiel, bei dem ein Fluchtweg aus dem Labyrinth gefunden werden muss.
Im Zukunftslabor erklärt Sicherheitsforscher Roman Peperhover (rechts) Michael Kuffer, CSU-Bundestagsabgeordneter, und Benjamin Strasser (FDP, hinten) das Matchbox-Spiel, bei dem ein Fluchtweg aus dem Labyrinth gefunden werden muss.
© Simone Harr/ECDF

Welche Aufgabe hat das Forschungsforum an dieser Stelle?

Wir beschäftigen uns genau mit dieser Schnittstelle zwischen Technik und Gesellschaft. Aktuell ist es häufig so: Wir führen sicherheitstechnische Neuerungen ein und sehen erst dann, was passiert. Im Forschungsforum wollen wir vorausschauen. Wir wollen versuchen abzuschätzen, welche Folgen es haben könnte, wenn wir bestimmte technische Systeme morgen dauerhaft einsetzen.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Beispiel ist, dass man eine Technik häufig unter dem Aspekt der Terrorabwehr einführt. Später nutzen wir sie aber in ganz anderen Bereichen, etwa zur Prävention oder Aufklärung von körperlichen Gewaltdelikten oder Diebstahl. Wir sehen jedoch, dass Menschen ihr Verhalten verändern, wenn sie beobachtet werden. Wenn ich also Überwachung ausweite, dann führt das in einer bestimmten Art und Weise auch zu einer Disziplinierung von Menschen, es kann sogar eine Kultur des Verdachts hervorbringen.

Wird bei dieser Überwachung zudem mit Gesichtserkennung gearbeitet, deren Arbeitsweise nicht oder nur für Experten nachvollziehbar ist und es unklar bleibt, welche Daten zu welchen Zwecken erfasst, gespeichert und ausgewertet werden, dann entzieht sich dieses technische System damit der demokratischen Kontrollierbarkeit. Darüber müssen wir diskutieren, bevor solche Systeme flächendeckend eingesetzt werden. Die zentrale Frage, die wir stellen, lautet nicht: Wie sicher können wir leben? Sondern: Wie sicher wollen wir leben? Wir müssen gut darüber nachdenken, was wir für unsere Sicherheit in Kauf nehmen möchten und wie viel unserer Freiheit wir für Sicherheit opfern wollen. Die Antwort „Alles, was geht“ ist zu simpel.

Da wäre die Politik gefragt. Wie eng ist der Draht zur Politik?
Sehr eng. Wir bereiten wissenschaftliche Erkenntnisse für Politiker verständlich auf, machen sie nachvollziehbar und zu einem Gegenstand der Reflexion. Das heißt, wir sind ein Katalysator für Wissenschaft in der Politik und sprechen deswegen auch von katalytischer Forschung. Dafür muss man Dinge manchmal vereinfachen oder auch erlebbar machen. Aus diesem Grund haben wir Anfang dieses Jahres in Berlin-Mitte das Zukunftslabor Sicherheit eröffnet. Dorthin laden wir Abgeordnete aller Fraktionen ein. Im Grunde simulieren wir im Labor die Zukunft der Sicherheit: Wir zeigen Systeme, die schon technisch verfügbar, aber noch nicht flächendeckend im Einsatz sind – und gehen dann in die Diskussion.

Was könnten die Folgen eines Einsatzes sein? In welche Richtung sollte es gehen und in welche besser nicht? Was ist förderwürdig, was sollte man lieber lassen? Unsere Aufgabe ist es, unabhängiges Wissen zugänglich zu machen und den Diskurs mit den Entscheidern einzuleiten. Und ich glaube, das gelingt uns ganz gut. Dadurch, dass wir unseren Sitz im Einstein Center Digital Future an der Wilhelmstraße haben, direkt neben dem Bundestag, sehen wir die Abgeordneten regelmäßig. Diese räumliche Nähe zur Politik ist ein großer Vorteil für den Austausch.

Mit welchen Sicherheitsfragen werden wir uns in 20 Jahren beschäftigen?
Das lässt sich schwer vorhersagen. Natürlich gibt es die absehbaren Trends, wie Gefahren durch die wachsende Digitalisierung oder den Klimawandel. Künstliche Intelligenz wird sicherlich auch ein großes Thema bleiben. Entscheidend ist für mich aber die Frage: Wie wird sich die Sicherheitskultur in unserem Land verändern? Was betrachten wir zukünftig eigentlich als Gefahren? Und welche Maßnahmen sind angemessen, diesen zu begegnen? Wir wenden ja derzeit sehr viel Zeit, Geld und Energie für die Terrorismusbekämpfung auf. Das ist zu einem großen Teil sicherlich berechtigt, aber natürlich gibt es Kritiker, die sagen: Warum betreiben wir nicht den gleichen Aufwand zu Keimen in Krankenhäusern?

Aus der Risikoforschung wissen wir, dass ein einzelnes Ereignis wie ein terroristischer Anschlag mit vielen Verletzten oder sogar Toten und mit entsprechender medialer Aufbereitung von der Bevölkerung als viel bedrohlicher wahrgenommen wird als solche eher lautlosen, schleichenden Gefahren. Die betreffen aber unter Umständen eine größere Zahl von Menschen. Das heißt, wir müssen uns darüber klarwerden, was wir eigentlich als Gefahr sehen wollen, und gleichzeitig, wie wir darauf reagieren. Das müssen wir aushandeln zwischen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Und dafür tritt das Forschungsforum Öffentliche Sicherheit ein.

Christa Beckmann

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