Wissenschaftsgeschichte: Die Erfindung der Zeit
Minuten- und Sekundenzeiger gibt es erst seit dem 17. Jahrhundert. Die neuen Uhren konnten die Zeit präzise messen und bahnten den Weg zu einem neuen Weltbild der Wissenschaft.
Als kleiner Junge besuchte ich meinen Vater manchmal auf der Baustelle. Er war Maurer und hatte schon im Alter von zwölf Jahren angefangen, das Handwerk seines Vaters zu erlernen. Während ich mit der Kelle im Sandhaufen spielte, schaute ich ihm aus sicherem Abstand zu, wie er Stein um Stein aufeinanderlegte und senkrechte Wände hochzog. Sein wichtigstes Hilfsmittel war das Lot: eine Schnur, an der ein Metallzylinder baumelte, manchmal auch ein schlichter Stein.
Um zur Ruhe zu kommen, brauchte der kleine Zylinder eine Weile. Mal übte ich mich in dem Geduldsspiel, ihn auszutarieren, dann wiederum stieß ich ihn absichtlich an und verfolgte, wie lange er pendelte. Erst viel später erfuhr ich, dass Wissenschaftler das Gleiche getan hatten. Gebannt vom gleichmäßigen Hin und Her pendelnder Gewichte entwarfen sie zusammen mit Uhrmachern, den Pionieren der Feinmechanik, die akkuratesten Zeitmesser, die Menschen bis dato ersonnen hatten.
Mit der Pendeluhr differenzierte sich die Uhrzeit im 17. Jahrhundert erstmals in Minuten und Sekunden aus. Von da an wurden immer mehr Tätigkeiten vor dem Hintergrund eines engmaschigen Zeitrasters erlebt. In der Welthandelsmetropole London, wo der Bedarf an kontinuierlicher Zeitbestimmung besonders hoch war, verbreiteten sich die Pendeluhren am schnellsten.
Die dort 1660 gegründete Royal Society hofierte den Erfinder, den Niederländer Christiaan Huygens. Seine Automaten zeichneten sich unter anderem dadurch aus, dass die Schwingung des Pendels, die den Gang des Hemmungsrades und damit der ganzen Uhr regulierte, nicht erlahmte. Mittels einer Rückkopplung erhielt das Pendel vom aufgezogenen Uhrwerk immer wieder kleine Impulse. Dadurch wurde gerade so viel Energie in das System eingespeist, wie durch Reibung verloren ging.
Die Position eines Schiffes auf offener See zuverlässig bestimmen
Nach einem Besuch des niederländischen Gelehrten in der englischen Hauptstadt gewann ihn die Royal Society für ein internationales Forschungsprojekt: die Bestimmung des Längengrads, an der Kaufleute und Admiralität in beiden Ländern höchstes Interesse hatten. Längenkreise sind gedachte Linien, die von Pol von Pol verlaufen. Wer sich etwa mit dem Schiff um ein Sechstel des Erdumfangs in Richtung Westen bewegt, überstreicht 60 Längengrade. Währenddessen verzögert sich der Höchststand der Sonne am Mittag um ein Sechstel des Tages, also um vier Stunden. Ähnliches gilt für den nächtlichen Höchststand der Gestirne.
Huygens und die Royal Society hofften darauf, mit der Pendeluhr solche Differenzen zuverlässig ermitteln und die Position eines Schiffes auf offenem Meer bestimmen zu können. Aber würde eine Borduhr bei allen Widrigkeiten der Seefahrt nach einer mehrwöchigen Atlantikreise immer noch dieselbe Zeit anzeigen wie eine zu ihr synchron laufende Uhr in London? Zwei gegen das Schlingern des Schiffes stabilisierte Pendeluhren gingen schließlich auf Reise. Kapitän Robert Holmes nahm die Messinstrumente mit nach Westafrika. Seinen spektakulären Reisebericht veröffentlichte die Royal Society 1665 in ihrer Wissenschaftszeitschrift, den „Philosophical Transactions“: Als Holmes bei Unwetter vom Kurs abgekommen und weit auf den Atlantik hinausgetrieben wäre, hätte seine Flotte nur aufgrund der Längengradberechnung mit Hilfe der Pendeluhren das rettende Ufer, die Insel Fogo, erreicht.
In der Geschichte der Längengradmessung galt die Reise lange als Meilenstein. Erst in jüngerer Zeit haben Wissenschaftshistoriker offengelegt, dass der Report des Kapitäns ziemlich frei erfunden war. Seemannsgarn. Das Pikante daran: Den Mitgliedern der Royal Society war dies nicht entgangen. Dennoch sahen sich weder sie noch Huygens dazu genötigt, ihre missglückte Veröffentlichung zu korrigieren und die Erwartungen herunterzuschrauben. Umso intensiver bemühten sich alle Beteiligten in der Folgezeit darum, ihre Versprechungen einzulösen.
Rätselhaft: In Äquatornähe ging die Pendeluhr nach
Das Unerwartete ließ nicht lange auf sich warten. Huygens, von Ludwig XIV. angeworben, zog nach Paris. Von nun an schickte er seine Pendeluhren unter französischer Flagge über die Weltmeere. Eine solche Forschungsreise führte im Februar 1672 nach Südamerika. In Cayenne angekommen, kalibrierte der Astronom Jean Richer die mitgebrachte Uhr anhand der Wanderbewegungen der Gestirne neu. Zu seiner Verwunderung ging sie um mehr als zwei Minuten pro Tag nach. Während das Pendel in Paris binnen einer Sekunde von einer Seite zur anderen geschwungen war, musste der französische Astronom es in Äquatornähe um einige Millimeter kürzen, damit es sich wieder im Sekundentakt bewegte. Richer ahnte, dass seine Pariser Kollegen diese Messung in Zweifel ziehen würden. Über ein Jahr hinweg wiederholte er sein Experiment gewissenhaft Woche für Woche.
Ein Mathematiker aus Cambridge wusste Richers Akribie zu schätzen. Isaac Newton sah in der Messreihe einen entscheidenden Hinweis darauf, wie sensibel ein Pendel auf Änderungen der Schwere reagiert. Die Schwerkraftwirkung könnte am Äquator geringer sein als in Paris und London, weil die Erde dort dicker, das fallende Pendelgewicht also weiter vom Mittelpunkt der Erde oder deren Massenzentrum entfernt war. Anders gesagt: Der Globus war möglicherweise nicht rund wie eine Kugel, sondern aufgrund seiner Rotation an den Polen abgeflacht und am Äquator dicker, so Newtons Deutung des Experiments. Denn wenn sich die Erde um ihre Achse dreht, müssten Fliehkräfte auftreten, die zu einer Abweichung von der Kugelgestalt führen.
Kann das sein? Die Erde, platt an den Polen
Die wissenschaftliche Debatte über eine mögliche Abplattung der Erde an den Polen sollte Jahrzehnte andauern. Sie zeigt beispielhaft, wie eng jene wissenschaftliche Revolution, die wir heute mit dem Namen Newton verbinden, mit Fortschritten in der Uhrentechnik verbunden war. Auf verschlungenen Wegen gelangte der eigenbrötlerische englische Gelehrte zu einer neuen Physik, die von Beschleunigungen und Kräften handelte und die zu ihrer experimentellen Bestätigung der präzisen Zeitmessung bedurfte.
In den Sitzungsprotokollen der Royal Society in London und der Académie des Sciences in Paris und auch in Newtons Aufzeichnungen wimmelt es von Pendelexperimenten. Naturforscher verfolgten die Schwingungen des Pendels in Vakuumapparaturen oder auf dem Gipfel des höchsten Vulkans in Teneriffa. Mal studierte Newton mit Hilfe von Kugeln, die er als pendelnde Gewichte an Seilen befestigte und zusammenprallen ließ, die physikalischen Stoßgesetze. Ein andermal wollte er herausfinden, ob ein unsichtbarer Äther den Weltraum erfüllt. Dringt ein feiner Himmelsstoff in die Poren aller festen Stoffe ein und ruft bei massiven schwingenden Körpern einen messbaren Widerstand hervor?
Auch einen entscheidenden gedanklichen Anstoß für seine Schwerkrafttheorie verdankte Newton einem Pendelversuch. Der Uhrenexperte Robert Hooke, Chefexperimentator der Royal Society, hängte eine Holzkugel an einem Faden auf, ließ sie aber nicht hin und her schwingen, sondern kreisen. Mit diesem Kreispendel simulierte er die Bewegung der Planeten. Ihre Kreisbewegung wäre zusammengesetzt aus einer geradlinigen Trägheitsbewegung „und einem anderen, zur Mitte gerichteten Bestreben“, so Hooke. Die Ursache für diese zum Zentrum gerichtete Bewegung der Planeten müsste in der Anziehungskraft der Sonne liegen, einer Kraft, die mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt.
Dank Mathematik: Newton erfasste die Bewegung der Planeten
Hooke fehlten die mathematischen Mittel, um diese Gravitationshypothese zu bestätigen. Mehrfach wendete er sich an den seinerzeit führenden englischen Mathematiker. Newton hielt sich bedeckt. Doch schließlich beantwortete er die Anfrage mit einem Jahrhundertwerk, den „Principia“. Dank einer neuen Rechenmethode war es ihm gelungen, die Bewegung der Planeten und anderer Körper kontinuierlich zu erfassen, Zeitpunkt für Zeitpunkt.
Als Newton sein Meisterwerk 1687 veröffentlichte und bald darauf nach London zog, hatten mechanische Uhren nicht nur die Forschung verändert, sondern auch das Leben in der Metropole. Wohlhabende Bürger holten sich Stutzuhren und bis zu drei Meter hohe Pendeluhren ins Haus. Noch beliebter waren minutengenaue Taschenuhren.
Christiaan Huygens hatte inzwischen mit einer weiteren Erfindung für Aufsehen gesorgt. Ihm war klar geworden, dass man für eine exakte Längengradmessung eine Uhr benötigte, die gegen das Schaukeln eines Schiffes unempfindlich war, deren Gangregler aber ähnlich gute Schwingungseigenschaften aufwies wie ein Pendel. Seine Neuerung war eine Spiralfeder, die um ihre Mittellage hin- und herschwingt.
Die Unruh, das hektische Herz der neuen Zeit
Das von einer gewundenen Feder angetriebene, oszillierende Rädchen, die „Unruh“, ein Ticktack im Kleinformat, avancierte zum Herzstück mechanischer Taschenuhren. Allein aus der Werkstatt des Londoner Uhrmachers Thomas Tompion kamen 5000 Taschenuhren. An der Schwelle zum 18. Jahrhundert gehörte der private Uhrenbesitz in der englischen Hauptstadt bereits zum bürgerlichen Selbstverständnis.
Die sprunghaft gestiegene Genauigkeit hatte unmittelbaren Einfluss auf das allgemeine Zeitempfinden. Schon dadurch, dass die Technik präzisere Zeitangaben möglich machte, mahnte sie auch eine strikte Anpassungsleistung an. Dem Einzelnen ließ sie kaum eine Wahl, ob er sich in diese neue Zeitordnung eingliedern mochte oder nicht. Man sprach neuerdings von „Pünktlichkeit“, Sportler rannten jetzt gegen die Zeit an, in den Crowley Eisenwerken arbeiteten Tagelöhner wie nach einer Stechuhr.
Parallel dazu wurde die Zeit Gegenstand der Naturphilosophie. Newton entwickelte den für die Physik maßgeblichen Zeitbegriff: „Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.“ Die „absolute Zeit“ machte die Welt berechenbar. Sie bildete einen festen Bezugsrahmen, in dem sich alle Körper bewegten. Analog zur standardisierten Uhrzeit, die ein koordiniertes Miteinander der Menschen in einer Großstadt ermöglichte, reduzierte die „absolute Zeit“ die Komplexität im Zusammenspiel physikalischer Objekte.
Newtons Begründung einer neuen Physik fällt, ähnlich wie im Falle der Relativitätstheorie Albert Einsteins gut 200 Jahre später, in eine Epoche der Verdichtung der Uhrzeit: hier der mechanisch, dort der elektrisch geregelten Zeit. Auch Newtons spätere Kontroverse mit dem deutschen Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz über das Wesen von Raum und Zeit kann vor diesem Hintergrund neu verstanden und gedeutet werden.
Das Buch „Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit“ (350 Seiten, 22,99 €) von Thomas de Padova ist vor kurzem im Piper Verlag erschienen.