Erziehung: Die eiserne Hand der kleinen Ella
Zwischen Kuschelpädagogik und chinesischer Basta-Erziehung: Der dänische Familientherapeut Jesper Juul rät Eltern, häufiger „ich will“ zu sagen. Denn Eltern sollten ihrem Kind durchaus klarmachen, was ihre eigenen Bedürfnisse sind.
„Zwang funktioniert“, sagt die amerikanische Juraprofessorin Amy Chua und mokiert sich in ihrem Erziehungstagebuch („Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“) über die notorischen Selbstzweifel und Unsicherheiten westlicher Eltern. Ständig müssten sie ihre Kinder loben, seien deren Leistungen auch nur mittelmäßig. Tadelten sie sie, empfänden sie sofort Schuldgefühle. Chua setzt auf den chinesischen Erziehungsstil ihrer Eltern. Die Chinesen hätten keine Hemmungen, ihren Kindern Freunde und Fernsehen zu verbieten und ihnen zu sagen: „Du bist dumm“, „wertlos“ oder „fett“ – einfach weil sie sie lieben und ihnen zutrauen, besser zu werden. Erst Drill und Drohungen („ich verbrenne deine Stofftiere“, „du bekommst kein Essen“) würden helfen, die Fähigkeiten des Kindes voll zu entfalten und so sein Selbstbewusstsein schließlich zu stärken, schreibt Chua.
In den USA spaltet der Bestseller das Publikum wie die Erziehungsmethoden der Ursula Sarrazin Deutschland. Seelische oder körperliche Grausamkeit gegen Kinder wünschen sich die wenigsten. Mehr „Strenge“ und „Disziplin“ viele. Auf der anderen Seite stehen jene, die glauben, partnerschaftlicher Umgang stärke das Kind am besten. Die Masse der westlichen Eltern bewegt sich zwischen diesen Extremen. Auf der Suche nach Orientierung bringen sie den Markt der Erziehungsratgeber zum Blühen.
Die Bücher des Dänen Jesper Juul verkaufen sich gut, weil Juul seine Tipps aus seiner langjährigen Praxis als Lehrer, Sozialpädagoge und Familientherapeut bezieht und weil er den Anspruch erhebt, Vorschläge jenseits des herkömmlichen Kontinuums zwischen Basta-Erziehung und Kuschelpädagogik anzubieten.
In einem Dutzend Bücher hat der 62-jährige Vater und Großvater sowie Gründer von Bildungswerkstätten für Familien (familylabs) in acht Ländern beschrieben, worauf es tatsächlich ankommt: auf die Haltung der Eltern. Sie sollen herausfinden, „wer das Kind ist“, und es so respektieren, wie sie einen Gast aus einer fremden Kultur respektieren würden, schreibt Juul. Das Kind ist mit den Eltern „gleichwürdig“. Das heißt aber keineswegs, dass es auch „gleichberechtigt“ ist. Die Eltern führen die Familie, nicht das Kind. Dabei sollen sie dem Kind durchaus ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen zeigen. Lange pädagogische Erklärungen und endlose Konjunktivketten sind dabei genau so überflüssig wie Strafen und Verbote. Das Kind soll vom guten Vorbild lernen.
Dass das in der Praxis schwieriger umzusetzen ist, als nach chinesischer Art zu erziehen, zeigt auch Juuls neues Buch „Elterncoaching“. Es geht zurück auf eine Initiative der schwedischen Elternzeitschrift „Vi föraldrar“ („Wir Eltern“), die nach Eltern mit Problemen suchte, um sie mit Juul zusammenzubringen und dann seine Ratschläge zu veröffentlichen. Hunderte von Familiengeschichten erreichten die Redaktion. Das Buch dokumentiert Auszüge aus den meist zweistündigen Gesprächen zwischen Juul und 18 Familien.
"Wir wollen nicht, dass Nina unser ganzes Leben bestimmt"
Da sind Hanna und Michael, die Eltern der neun Monate alten Nina. Sie „können nicht mehr“. Von Geburt an war Nina eigensinnig, sagen Hanna und Michael: „Sie hat einen unglaublich starken Willen und war überhaupt nicht so, wie wir uns ein Baby vorgestellt hatten …“. „Nina will, dass die ganze Zeit was los ist, sonst ist sie nicht auszuhalten.“ Wollen sich die Eltern für ein paar Minuten loseisen und setzen sie auf den Boden, bekommt sie einen Wutanfall. Nach zwei Stunden ertragen die Eltern das nicht mehr und nehmen sie doch auf den Arm. Niemals hätten die Eltern geglaubt, dass es Nina gelingen würde, „hier die Führung zu übernehmen“. Jetzt sagen sie: „Wir wollen nicht, dass sie unser ganzes Leben bestimmt.“ Nina schläft nur schwer ein und auch nur im Bett der Eltern. Seit ihrer Geburt konnten Hanna und Michael keine Nacht mehr durchschlafen: Die Tipps aus dem „Einschlafbuch“ haben ebenso wenig geholfen wie eine „Babymassage“. Die Eltern sehnen sich nach einer einzigen durchgeschlafenen Nacht.
Jesper Juul stellt Fragen und lässt seine Einschätzung in das Gespräch einfließen: „Nina ist aktiv, aber nicht hyperaktiv.“ Das erkennt Juul daran, dass sie „nicht auf eine nervöse Art und Weise aktiv“ ist. Dennoch habe Nina „mehr Energie, als ihr guttut“. Daran lasse sich wohl auch nicht viel ändern: „Sie ist, wie sie ist.“ Ein paar Tipps hat er dennoch. Nachts sollen die Eltern das Kind nicht stundenlang schreien lassen. „Tagsüber ist das etwas anderes“, sagt er. Die Eltern sollen Nina einen Vorlauf gewähren, indem sie ihr sagen, was sie vorhaben: „,Jetzt ziehen wir uns gleich an.’ Und dann zieht ihr sie an.“ Nina werde das bereits verstehen. Die Eltern sollen „so konsequent wie möglich sein“. Und sie sollen sich Luft verschaffen, indem sie Nina stundenweise von anderen Menschen ihres Vertrauens betreuen lassen.
In der Rubrik „Rückblick“ berichten die Eltern, was nach Juuls Coaching in der Familie passiert ist. Hanna und Michael sagen, sie hätten sich von ihm verstanden gefühlt und seien sehr erleichtert gewesen zu hören, dass Nina nicht hyperaktiv ist. Sie haben versucht, mit Nina härter umzugehen, was aber nicht funktioniert hat, sie schrie „nur noch lauter“. Aber seit Nina abgestillt ist, konnten die Eltern schon ein paar mal sechs bis acht Stunden durchschlafen. Und sie haben sich vorgenommen, einen Abend pro Woche zu zweit zu verbringen.
Ein anderes Beispiel ist Ella, dreieinhalb. „Seit der Geburt ihrer kleinen Schwester regiert sie die Familie mit eiserner Hand“, ist zu lesen. Ihre Eltern Annika und Peter beschimpft sie, mehrmals am Tag bekommt sie „unfassbare Wutausbrüche, schreit, tritt um sich und schlägt“. Ob beim Zähneputzen oder beim Abendessen: „Es herrscht Krieg“, berichtet ihr Vater Peter. Schmusen will Ella nur mit ihrer Oma, nicht aber mit den Eltern. Annika fragt sich verzweifelt, ob sie Ella überhaupt noch wirklich liebt.
Den Streit um das Zähneputzen gibt es nicht mehr
Juul erklärt, dass Ella zum Typus des „autonomen Kindes“ gehört: Kinder, die sich nicht „manipulieren“ und zum Kummer der Eltern auch nicht lieben lassen: Sie selbst wollen bestimmen. Das sei ihre Persönlichkeit, weshalb die Eltern auch nicht in einen Machtkampf einsteigen sollten. „Autonome Kinder“ ließen sich Fürsorge, Erziehung und Liebe nicht einfach vorsetzen. Die Eltern sollen wie mit einem Erwachsenen zu ihnen sprechen und ihnen Raum zur Mitbestimmung lassen: „Ich will, dass du das hier machst. Du darfst es machen, wann du willst, aber ich will, dass du es machst.“ Nach dieser klaren Ansage sollen sie Distanz schaffen. Sie sollen weggehen und den Kontakt zum Kind unterbrechen, damit es „seine Würde nicht verliert“ und eine eigene Entscheidung treffen kann – und damit die Situation nicht eskaliert.
Merke das Kind, dass die Eltern es ernst nehmen, werde es bald auch nicht mehr so viel Energie darauf verwenden, seinen Willen durchzusetzen. Die Eltern berichten im Anschluss an das Gespräch mit Juul, nicht alles habe sich geändert. Aber den Zähneputzstreit gebe es nicht mehr. Annika hat ihrer Tochter gesagt: „Von heute an darfst du dir die Zähne selber putzen. Aber ich kann dir zeigen, wie es geht, wenn du magst.“ Darauf gab Ella keine Antwort, aber ein paar Tage später kam sie zu ihrer Mutter und fragte sie, ob sie es ihr zeigen könne.
Weitere der aufgezeichneten Elterngespräche haben Überschriften wie: „Felix ist langsam – und Papa verliert schnell die Geduld“ oder „Als die Zwillinge auf die Welt kamen, verstummte der große Bruder“. Eltern bekommen dabei eine Menge Anregungen. Will das Kind etwa nicht aufhören, im Bett der Eltern zu schlafen, sollen diese es mit der Wahrheit versuchen. Sie sollen dem Kind sagen, dass sie das nicht mehr wollen, und es darauf vorbereiten, dass diese Zeit bald endet: „Darum brauchen wir jetzt deine Hilfe. Wie sollen wir es machen, damit du es auch gut findest?“ Selbst wenn das Kind sich darauf noch nicht einlassen will, kann es sich nun damit befassen, dass sich bald etwas verändern wird.
Eltern sollten so oft wie möglich „ich will“ sagen: „Das tut den Erwachsenen gut und hilft den Kindern, zu erkennen, dass auch Eltern Bedürfnisse haben.“ Darum sollen die Eltern von sich auch in der ersten Person sprechen, also keine Formulierungen verwenden wie: „,Jetzt wird dich Mama anziehen.’ Es ist unmöglich, mit einem Menschen eine Beziehung zu entwickeln, der das Wort ,ich’ nicht benutzen kann“, sagt Juul. Und er rät: „Stellt keine Fragen wie: ,Willst du dir Schuhe anziehen?’ Das sind Floskeln, als Fragen verkleidet. Denn sie sollen sich ja anziehen und in den Kindergarten gehen. Sagt stattdessen: ,Ich möchte gerne, dass du jetzt dies oder das machst.’“
Weigert sich das Kind jeden Abend, ins Bett zu gehen, können die Eltern statt Überredung und Zwang etwas anderes versuchen. Sie könnten sagen: „Wir finden, dass du bald ins Bett gehen solltest. Bist du müde?“ Das Kind wird zuerst „nein“ sagen. Aber nach einer Weile wird es den Eltern Bescheid sagen und ins Bett gehen, lautet Juuls Erfahrung.
Eltern erhoffen sich Bedienungsanleitungen für ihr Kind
Nicht alle Eltern waren nach ihrem Gespräch mit Juul enthusiastisch. Ein Paar gibt zu, eine Bedienungsanleitung für ihr Kind erhofft zu haben. In der Tat funktionieren Juuls Ratschläge nicht nach dem einfachen Muster: „Immer wenn dein Kind dieses oder jenes tut, sagst du …“. Er entwickelt seine Hinweise aus der Familiensituation und der Persönlichkeit des Kindes, so dass nicht jeder Rat auf jedes Kind zu passen scheint, es sogar manchmal zu Widersprüchen kommt. Bald erklärt Juul, Eltern sollten ihrem Kind Kompromisse anbieten („Du kannst zwischen dem roten und dem braunen Pullover wählen, ich empfehle den braunen, weil es heute kalt ist“). Dann wieder sagt er, Eltern sollten selbst die Entscheidungen treffen. Kompromisse übertrügen die Verantwortung auf das Kind, was diesem nicht guttue.
Eltern werden länger darüber nachdenken müssen, warum es sich vielleicht gar nicht um Widersprüche handelt, sondern um das immer gleiche Programm: Nehmt die Persönlichkeit des Kindes und seine Gefühle ernst, nehmt auch euch und eure Gefühle ernst. Beschließen die Eltern, ihren Erziehungsstil zu ändern, sollen sie dem Kind das klar ankündigen, ihm aber auch sagen, dass es keine Fehler gemacht hat, sondern sie selbst. Die Eltern könnten dem Kind sogar „mit einer kleinen Zeremonie“ zeigen, dass sie sich ändern wollen.
Auch dieser Rat zur Selbstkasteiung wäre der chinesischstämmigen Yale-Professorin Amy Chua ein Gräuel. Was Juul umgekehrt von ihren Erziehungsmethoden halten würde, lässt sich aus seinem kurzen Artikel über das „Projektkind“ herauslesen: Die Eltern eines „Projektkindes“ „haben eine bestimmte Vorstellung von der Entwicklung ihres Kindes oder ein bestimmtes Ziel für dessen zukünftiges Leben vor Augen“. Die Eltern-Kind-Beziehung wandle sich so in eine Subjekt-Objekt-Beziehung. „Projektkinder sind Bonsaibäume, über deren Wachstum der Besitzer die Macht übernommen hat.“ Finden die Kinder eines Tages heraus, dass nicht sie selbst, sondern die elterliche Ambition der eigentliche Grund für das elterliche Interesse war, werden sie ein Leben lang enttäuscht sein und Angst davor haben, ausgenutzt zu werden – der Ursprung für ein schlechtes Selbstwertgefühl.
„Die Kunst besteht also darin, die Entwicklung des Kindes zu beeinflussen und sich zugleich von seiner Individualität inspirieren und führen zu lassen“, schreibt Juul – eine Balance, die sich natürlich von niemandem tagein, tagaus aufrechterhalten lasse. Für Eltern, die diese Einsicht nicht als tröstlich empfinden, hat er ein dänisches Sprichwort: „Gib die Hoffnung auf, und dir wird es besser gehen.“
- Jesper Juul. Elterncoaching. Gelassen erziehen. Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2011. 272 Seiten, 17,95 Euro.
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