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Die Stadtautobahn steht sinnbildlich für die Verkehrspolitik West-Berlins nach 1945.
© Doris Spiekermann-Klaas/Tsp

Verkehrsplanung: Die autogerechte Stadt ist eine Untote

Die autogerechte Stadt wurde in den 1920ern auch in Berlin erfunden. Bis heute wirkt das Leitbild fort – auch wenn Verkehrsplaner längst davon abrücken.

Elektromobilität, Car-Sharing, autonomes Fahren: Das Automobil steht gegenwärtig wieder einmal im Brennpunkt breiter gesellschaftlicher Debatten. Darin kommt ein tiefer Umbruch der automobilen Kultur zum Ausdruck. Wie Konflikte um Fahrverbote in den Innenstädten oder die Erweiterung autofreier Zonen zeigen, erfasst dieser Umbruch insbesondere die großen Städte. Deutet sich damit der Abschied von der Automobilität der Hochmoderne in den Metropolen Europas und Nordamerikas an? Das Auto und seine Geschichte, der automobilorientierte Stadtumbau und dessen Gegenbewegungen – all das ist inzwischen auch ein Fall für Kulturhistoriker.

Im 20. Jahrhundert hat der schillernde Leitbegriff der „autogerechten Stadt“ Epoche gemacht. Wie stark das Auto die Entwicklung der großen Metropolen bestimmte, lässt sich nicht zuletzt an Berlin festmachen. Im Oktober 1926 wurden zwei später berühmt gewordene Stadträte in den Magistrat von Berlin gewählt, die scheinbar konkurrierende Visionen urbaner Mobilitätspolitik vertraten.

Martin Wagner, Städtebauer und Stadtrat für Hochbau sowie Leiter des Amtes für Stadtplanung, focht für einen automobilorientierten Stadtumbau. Ernst Reuter, zunächst Verkehrspolitiker und nach 1945 Regierender Bürgermeister, trat als Protagonist des öffentlichen Personennahverkehrs auf. Doch die Konfliktlinien verliefen nicht vorrangig zwischen diesen beiden klassischen Polen städtischer Mobilitätspolitik.

Bahnbrechend für den von Reuter repräsentierten ÖPNV war das zwischen 1926 und 1928 begründete städtische Riesenunternehmen Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), das später den Umbau Berlins zur „autogerechten Stadt“ flankierte. Vor allem der 1927 eingeführte Einheitstarif von 20 Pfennig mit Umsteigeberechtigung zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln war ein Symbol der hegemonial gewordenen Leitvorstellung einer kommunalsozialen Mobilitätspolitik.

Früher Plan Berlins: Autohochstraßen auf 47 Kilometer Länge

Reuters Kollege Wagner erhielt für seinen sozialen Wohnungsbau eine ähnliche Unterstützung. Für seine Vision eines automobilorientierten Stadtumbaus musste er hingegen erst einmal Pilotprojekte lancieren. Vor allem der 1929 durchgeführte Wettbewerb für den Umbau des Alexanderplatzes zum Kreisverkehrsplatz wirkte als Fanal – und ebenso Wagners Polemik, die Ministergärten an der Wilhelmstraße zugunsten eines ungehinderten Ost-West-Autoverkehrs zu durchbrechen. Zwar blieb das zunächst ohne größere Folgen. Doch wurden während Wagners Amtszeit weitere vorausschauende Projekte angestoßen. Seine Idee eines Netzes städtischer „Autohochbahnen“ wurde 1931 von einem Planer zu einer Studie für den Bau von 47 Kilometern Hochstraßen verdichtet.

Wagner verfolgte mit seinen Forderungen – der „autogerechten Stadt“ avant la lettre – auch insofern utopische Vorstellungen, als zu dieser Zeit erst relativ wenige Pkw auf Berlins Straßen unterwegs waren. Die zentrale, den Aufstieg der „autogerechten Stadt“ bis heute bestimmende Konfliktpartnerschaft bestand dabei aber nicht zwischen Wagners Hochbaubehörde und Reuters öffentlichen Verkehrsbetrieben – sondern zwischen den von Wagner geführten Ämtern für Stadtplanung und Hochbau auf der einen und der für die Straßenplanung und -ausführung zuständigen kommunalen Tiefbauverwaltung auf der anderen Seite. Beide kämpften um die Führungsrolle im Städtebau. Wegen dieser Konstellation konnte Wagner auf Reuter durchaus als Bündnispartner zählen, während zum städtischen Tiefbauamt personell und verwaltungspolitisch starke Konkurrenzen bestanden.

Mit seinen Grundideen konnte sich Wagner langfristig durchsetzen, sie wirkten über die NS-Zeit hinweg bis in die Nachkriegszeit fort. Nach 1933 trieben zunächst die nationalsozialistischen Stadtverwaltungen den Bau großer Ausfallstraßen von den Innenstädten zu den neu errichteten Autobahnen voran, so auch in Berlin. Nach 1945 nahm dann der West-Berliner Senat wesentliche Ideen Wagners für den autogerechten Umbau der Innenstadt wieder auf.

1959 das epochemachende Buch: "Die autogerechte Stadt"

Allerdings wiesen insbesondere die europäischen Alt- beziehungsweise Innenstädte mit ihren engen Straßen ganz andere Voraussetzungen auf als amerikanische Städte, aber auch als der suburbane Raum beiderseits des Atlantiks. Während das Leitbild in den Neubauquartieren der suburbanen Stadterweiterungsgebiete praktisch uneingeschränkt umgesetzt werden konnte, dominierten bei den Planungen für die Innen- und Altstädte lokale Konstellationen. Berlin, Köln, Dortmund, London oder Sheffield gelten als Städte, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg hin zu einer automobilaffinen Moderne entwickelten. Anderswo maßen die Gesellschaften dem Bauerbe einen wichtigeren symbolischen Wert bei: wie in Warschau, Budapest oder Nürnberg. Dort wurde der alte Stadtgrundriss in größerem Umfang rekonstruiert.

Als der Architekt und Stadtplaner Hans Bernhard Reichow 1959 sein Buch mit dem epochemachenden Titel „Die autogerechte Stadt“ veröffentlichte, hatte sich der Handlungsdruck gegenüber der unmittelbaren Nachkriegszeit stark geändert. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt hatte die Automobilität in den Städten tatsächlich so stark zugenommen, „dass das Leben in westlichen Gesellschaften automobile Subjekte quasi voraussetzte“. Planer wie Reichow mussten zu dieser Zeit bereits aus einer Abwehrhaltung gegen den „Verkehrstod“ der Städte argumentieren. Reichow prognostizierte eine globale Unausweichlichkeit des automobilen Stadtverkehrs und die existenzielle Bedeutung von „Verkehrslösungen einer motorisierten Welt“.

Sein Ansatz war Teil eines vielstimmigen Chors, der zusammengenommen eine europäische Variante des automobilorientierten Stadtumbaus repräsentiert. Eine der transatlantischen Scheidelinien war – in der Diktion Reichows – die Abgrenzung gegenüber „amerikanischen Monster-Verkehrsknoten“ mit ihren „niveaufreien Auf- und Abfahrten“. Die hartnäckige Vorstellung von einer US-amerikanischen Dominanz in der Stadtplanung der Bundesrepublik und Europas nach 1945 ist daher insgesamt nicht haltbar.

In der DDR wurde das Konzept zunächst als amerikanisch denunziert

Über die sozialistische Autokultur ist deutlich weniger bekannt. Die Wahrnehmung wird bestimmt von technologischen Rückständen, verquickt mit populären Vorstellungen von langen Wartezeiten der Kunden auf das Sehnsuchtsobjekt „Auto“ und einer ideologischen Präferenz für den ÖPNV. Tatsächlich war die Entwicklung aber deutlich dynamischer, vielfältiger und widersprüchlicher, als die Stereotype es vermuten lassen.

In der DDR wurde die Formel der „autogerechten Stadt“ in den 1950er Jahren zwar zunächst als US-amerikanisches Konzept denunziert. Breite Magistralen sollten vorrangig Aufmärschen dienen und nicht etwa dem Autoverkehr – auch wenn sie sich später als förderlich für die erst langsam wachsende Zahl an Pkw erwiesen.

Mit der Entwicklung zur sozialistischen Konsumgesellschaft in den 1960er Jahren brachten Staat und Partei, unter Beibehaltung der verbalen Ablehnung „amerikanischer Verhältnisse“, dem massiv zunehmenden Verlangen der Bevölkerung nach Pkw rhetorisch mehr Verständnis entgegen. Die DDR realisierte dann auch durchaus Kernelemente eines automobilorientierten Stadtumbaus: mehrspurige Straßenbänder in den Innenstädten, große Untertunnelungen sowie „leistungsfähige Hochstraßen“, so zum Beispiel in Berlin, Dresden oder Halle-Neustadt.

Die "Love Affair" mit dem Auto wird zur Ehe

Und heute? Bekanntlich setzte im Westen bereits in den 1960er Jahren der Niedergang der „autogerechten Stadt“ als Leitbild der Stadtplaner ein. Sie wandten sich der neuen Maxime des „stadtverträglichen Verkehrs“ zu. Dies galt allerdings nicht in gleichem Maße für die Nachbardisziplin der Verkehrsplaner. Wie nachdrücklich festzuhalten ist, hat der Paradigmenwechsel die Dynamik des automobilorientierten Stadtumbaus kaum gebremst. Abgesehen von den Innenstädten nimmt der Autobesitz und -verkehr bis heute zu. Die „autogerechte Stadt“ ist eine Untote – als Leitbild längst beerdigt, als gesellschaftliche Realität jedoch quicklebendig.

Im Kontext dieser ambivalenten Entwicklung sind allerdings der Trend zu neuen Mobilitätsformen und von der Autoindustrie sorgenvoll registrierte Absetzbewegungen von der gesellschaftlichen Norm des individuellen Pkw-Eigentums besonders unter jüngeren Leuten in den Metropolen keinesfalls unterzubewerten. Das Auto ist offensichtlich von einem Treiber zu einem Relikt gesellschaftlicher Verhaltensmuster geworden.

Die autogerechte Stadt ist nicht einmal untot

Dennoch: Das verdeckt allenfalls, dass sich global betrachtet städtische Mobilität und Baukultur nur allmählich verändern. Die „Love Affair“ der Amerikaner mit dem Auto sei eben nicht zu Ende, sondern nur in eine Ehe übergegangen, wird ein Aufsichtsratsvorsitzender von General Motors bereits in den frühen 1970er Jahren zitiert.

Derweil schreiten die alten Dynamiken einer nach wie vor dramatisch wachsenden Automobilisierung im globalen Maßstab rasant voran. Die „autogerechte Stadt“ ist mithin nicht einmal untot. Sie wächst und gedeiht anderswo weiter.

Der Autor ist Leiter der Forschungsabteilung „Historische Forschungsstelle/Wissenschaftliche Sammlungen zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR“ am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS), Erkner. Der Text basiert auf einem Beitrag in der Zeitschrift „Zeithistorische Forschungen“.

Christoph Bernhardt

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