Genetik: Der Schmetterlingsdefekt
Im Grunde geht es um Macht: Man kann seine Gene beherrschen, behauptet der Sachbuchautor Peter Spork.
Jeder Mensch möchte Herr über sein eigenes Schicksal sein und so erscheint es uns wie ein unerträglicher Machtverlust, dass Gene darüber entscheiden sollen, ob wir nun klug oder dumm, hübsch oder hässlich, groß oder klein werden. Mit seinem Buch „Der zweite Code“ will Wissenschaftsjournalist Peter Spork offenbar dieses verwundete Ego salben. „Wie wir unser Erbgut steuern können“, lautet der Untertitel, der der Do-it-yourself-Mentalität schmeichelt: Die Gene als Tasten eines Klaviers und wir als die Virtuosen, die auf dem Hocker sitzen und entscheiden, welche Melodie wir dem Instrument nun entlocken wollen.
Spork stellt eines der zurzeit spannendsten Forschungsfelder vor: die Epigenetik. Darunter verstehen Forscher all jene Signale, die unsere Gene regulieren, also darüber entscheiden, wann welche Teile unseres Erbgutes abgelesen oder ignoriert werden. Was für einen Unterschied das machen kann, belegt Spork an zahlreichen Beispielen. Die Verwandlung der Raupe in einen Schmetterling: Epigenetik. Die Entwicklung einer Ameise zu einer Königin oder einem Krieger: Epigenetik. Und vor allem erklärt die Epigenetik eines der ganz großen Wunder der Natur: Wie aus einer befruchteten Eizelle die Billionen spezialisierter Zellen entstehen, die einen Menschen ausmachen, die Leberzellen, Herzzellen, Fettzellen, Muskelzellen. Sie alle tragen dieselbe genetische Information, aber jede Zelle liest nur den Teil des Erbgutes ab, den sie benötigt, alle anderen Gene schaltet sie ab.
Diese Mechanismen aber der Genetik entgegenzusetzen, bedeutet, sie falsch zu verstehen. Denn zum einen sind die Eiweiße, die Gene an- oder ausschalten, selbst in den Genen codiert. Die Epigenetik ist also selber Genetik. Zum anderen wird das Erbgut des Menschen schon lange nicht mehr als dumpfe Truppe von Genen verstanden, die ihr Programm abspult, komme was wolle. Jeder Organismus, der auf der Erde überleben will, muss sich einer verändernden Umwelt anpassen können. Darum reagieren Organismen auf die Umwelt, indem sie Gene ein- oder ausschalten. Aber diese Möglichkeiten sind begrenzt und festgelegt. Ein Schmetterling kann sich nicht entscheiden, wieder eine Raupe zu werden.
Da ist es doppelt ärgerlich, dass dem Autor im ersten Kapitel, in dem er die genetischen Grundlagen erläutert, einige grobe Fehler unterlaufen. Über mehrere Absätze wird dort über Aminosäuren gesprochen, aus denen die RNS aufgebaut sei. Dabei muss heute auch im Grundkurs Biologie jeder Abiturient wissen, dass Aminosäuren die Grundbausteine von Proteinen sind und RNS eine Nukleinsäure. An einer anderen Stelle erläutert der Autor, wie Insulin wirkt: Sinkt der Blutzuckerspiegel, so wird laut Spork im Zellkern das Insulin-Gen abgelesen, Insulin hergestellt und dann ausgeschüttet, um den Blutzuckerspiegel steigen zu lassen. Dabei ist es umgekehrt: Ein hoher Blutzuckerspiegel lässt die Zellen Insulin ausschütten, was dann für eine Senkung des Blutzuckerspiegels sorgt. Zum anderen würde das Ablesen des Gens viel zu lange dauern. Das Insulin, das von den Zellen ausgeschüttet wird, ist also bereits vorhanden.
Das mögen Flüchtigkeitsfehler sein, aber sie erschüttern gleich zu Beginn das Vertrauen in den Autor. Was das Buch am Ende lesenswert macht, sind die zahlreichen Forscher, mit denen Spork gesprochen hat und die von ihrer Arbeit berichten. Dabei wird klar, wie wenig wir immer noch von dem Zusammenspiel von Genen und Umwelt verstehen. Vermutlich kann zum Beispiel, was und wie viel wir an Nahrung zu uns nehmen, beeinflussen, welche Gene in unseren Zellen an- oder ausgeschaltet werden. Genaues aber weiß man noch nicht.
Eine Anleitung zum Herrschen über das eigene Genom kann die Epigenetik nicht liefern. Am Ende des Buches fasst Spork seine epigenetischen Empfehlungen so zusammen: „Tue so regelmäßig wie möglich immer wieder etwas für deine Gesundheit und deine Entspannung. Achte auf das, was du isst. Gönne deinem Körper die Bewegung, nach der er verlangt und am besten noch ein wenig mehr.“ Das ist mit Sicherheit ein guter Rat, dürfte die meisten Menschen allerdings nicht überraschen.
Spork sieht aber offenbar eine größere, philosophische Dimension. Mit Blick auf den Schmetterling schreibt er: „Die Epigenetik macht uns neue Hoffnung, dass auch wir uns verwandeln können, dass wir Macht über unser Erbgut haben.“ Aber nur dem Menschen geht es um Macht. Nur er hat diesen Schmetterlingsdefekt. In der Natur hingegen entsteht und vergeht das Leben, Umwelt und Organismus beeinflussen sich gegenseitig, Gene schalten andere Gene ein oder aus – und der Mensch lebt sein Leben, hübsch oder hässlich, klug oder dumm, groß oder klein. Kai Kupferschmidt
Peter Spork: Der zweite Code. Epigenetik – oder wie wir unsere Gene steuern können. Verlag Rowohlt, Reinbek, 2009. 304 Seiten, 19,90 Euro.