Hermann Parzingers "Die Kinder des Prometheus": Der Morgen der Menschheit
Die Menschheit vor der Schriftlichkeit: Hermann Parzingers Meisterwerk „Die Kinder des Prometheus“ erzählt die frühe Weltgeschichte unserer Kulturen und Zivilisationen.
Es gibt in der Sturzflut der Bilder nur wenige, die wirkliche Inbilder der Menschheitsgeschichte geworden sind. Aus der neueren Historie fallen einem die Aufnahmen vom Fußabdruck Neil Armstrongs ein, des ersten Menschen auf dem Mond. Oder der Moment, in dem das zweite Flugzeug neben dem schon brennenden ersten Turm in das New Yorker World Trade Center rast, wie eine schwarze, Science-Fiction-hafte Killerbiene.
Auf den Spuren Michelangelos und Stanley Kubricks
Doch außer dem Ungeheuren und dem Schrecken existiert auch die Schönheit der Schöpfung. Gottes ausgestreckter Finger, der sich beinahe mit dem von Adam berührt: im Himmel der von Michelangelo ausgemalten Sixtinischen Kapelle. Und dann dies: Eine Gruppe düsterer Affenmenschen stößt in der afrikanischen Savanne auf eine Wasserstelle, die noch von einer anderen Urhorde begehrt wird. Es kommt zum raufenden Streit, plötzlich ergreift der Anführer der einen Horde einen ausgebleichten Tierknochen und erschlägt damit seinen Kontrahenten. In diesem Moment des mörderisch jähen Triumphs und der Erkenntnis, aus einem schieren Stück Natur ein erstes Werkzeug, eine Waffe gemacht zu haben, schleudert der behaarte, sich aufrichtende Hominide den Knochen hoch, sehr hoch in die Luft – und auf dem Scheitelpunkt seiner Flugbahn verwandelt sich das keulenartige Ding: in ein ähnlich geformtes Raumschiff.
Die Vorzeit ist nur vermeintlich grau
So sind bei der Ouvertüre von Stanley Kubricks Film „Odyssee 2001“ aus dem Jahr 1968 – noch vor Neil Armstrongs Mondlandung – in wenigen unvergesslichen Minuten Millionen Jahre vergangen. Die Szene, zur „Zarathustra“-Musik von Richard Strauss, die seitdem weltweit zur akustischen Ikone geworden ist, nannte Kubrick „The Dawn of Man“.
Den Morgen der Menschheit beschreibt nun auch Hermann Parzinger, wissenschaftlich fundiert, auf knapp 850 Seiten. Und in gewiss anderer Weise ist Parzingers Buch „Die Kinder des Prometheus“ kaum weniger suggestiv und selbst für Laien eine erstaunlich spannende Lektüre. Der Untertitel verheißt „Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“.
Also geht es um eine vermeintlich graue Vorzeit, und der 55-jährige Bayer Hermann Parzinger ist ja nicht nur seit 2008 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin, sondern von Berufs wegen: Archäologe und Prähistoriker. Im Jahr 2001 wurde er berühmt, als er in Südsibirien einen riesigen Goldschatz der reiternomadischen Skythen entdeckte – ausgestellt vor sieben Jahren in einer auratischen Schau im Berliner Martin-Gropius-Bau. Und 2006 stieß Parzinger noch auf die im Permafrost vollkommen konservierte, mit Kleidung und Waffen versehene Eismumie eines wohl vor zweitausenddreihundert Jahren gestorbenen skythischen Kriegers. Wiederum eine Weltsensation.
Im selben Jahr ist dann auch schon im Münchner C. H. Beck Verlag Hermann Parzingers gewaltiger Band über „Die frühen Völker Eurasiens. Vom Neolithikum bis zum Mittelalter“ erschienen. Das waren über 1000 Dünndruckseiten mit unzähligen, für zentraleuropäische Zungen oft kaum aussprechbaren archäologischen Fundorten, Stämmen, Herrschern, Kult(ur)formen und Quellenforschern meist russischer oder irgendwie kaukasisch-sibirischer Provenienz – dabei das halbe Literaturverzeichnis in kyrillischer Schrift gesetzt. Sorry, das schaffen nur Spezialisten. Aber jetzt: dieses wunderbare neue Buch, in elegant erzählender, anschaulich verständlicher Sprache. Parzingers Meisterwerk gleicht so einem wissenschaftlichen Menschheitsroman.
Nicht zufällig beruft sich der Autor zu Beginn auf ein Vorbild, auf Alexander von Humboldt. Der Kontinente ersegelnde, Tropendschungel durchwandernde, eisige Hochgebirge erklimmende Schürfer, Sammler, Zeichner und Schriftsteller hatte mit Blick auf die Naturvölker Lateinamerikas einst festgestellt: „dass auch das für eine abgelegene Region Spezifische für das Verständnis dieser einen ganzen Welt von Bedeutung ist“. Das schreibt Parzinger über den „Kerngedanken“ seines eigenen Buchs, nicht zuletzt in Anspielung auch auf das von ihm mitgeplante Humboldt-Forum in der nun wiedererstehenden Hülle des Berliner Stadtschlosses.
Eine Universalgeschichte, die alle Kontinente umfasst
Tatsächlich hat Parzinger eine alle Kontinente umfassende Universalgeschichte geschrieben. Denn zu den Wundern der frühen Menschheit gehört, dass jene rund 18 000 Exemplare der Spezies Homo sapiens, die vor etwa 200 000 Jahren in Zentralafrika existierten, sich von dort seit spätestens 100 000 Jahren über den ganzen Planeten ausgebreitet haben. Als wahrhaft eine Menschheit.
Diese erstaunliche, unter anderem durch DNS-Analysen nachweisbare Migration out of Africa über die Arabische Halbinsel und den Nahen Osten in alle Welt hing mit Kälteperioden zusammen, die so viel Wasser rund um die Polkappen gefrieren ließen, dass vor 75 000 Jahren der Spiegel beispielsweise des Roten Meeres wohl 70 Meter unter dem jetzigen Level lag. Teilweise war der Wasserstand der Ozeane sogar 120 Meter tiefer als heute. Menschen, die damals als Jäger und Sammler noch nicht sesshaft lebten und weder Ackerbau noch Viehzucht betrieben, gelangten so über den Iran und den indischen Subkontinent bis nach Südostasien.
Vor 50 000 Jahren erreichten Menschen Australien
Weil auch die pazifischen Inselwelten zwischen Indonesien, Malaysia und Australien nur durch Meerengen getrennt oder auf den frühen Kontinenten Suda und Sahul miteinander verbunden waren, haben Menschen vor gut 50 000 Jahren bereits Australien und Neuseeland erreicht. Ungefähr 10 000 Jahre bevor die Menschheit Europa entdeckte. Als letzter Erdteil wurde dann von Nordostsibirien über die Beringstraße und Alaska in der Zeit um 15 000 v. Chr. auch Amerika von Nord nach Süd besiedelt. Ältere Nachweise seien in der Forschung „heftig umstritten“, schreibt Parzinger. Amerika bleibt so in jedem Fall auch in der Frühgeschichte die Neue Welt.
Was Scherben und Partikel eines Skeletts über die Zeit vor hunderttausenden Jahren erzählen
Der Autor ist Prähistoriker. Indes stellt sein Buch über uns „Kinder des Prometheus“ Parzingers eigene Berufsbezeichnung durchaus infrage. Denn diese „Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“ ist ja nichts anderes als reale Geschichtsschreibung. Menschliche Natur- und Geistesgeschichte auf der Basis neuester archäologischer Forschungen lebt als Schilderung der biologischen, zivilisatorisch-technischen und kulturellen Evolution nicht vom Mythologischen. Sie beruht vielmehr auf den immensen Fortschritten der Naturwissenschaft: auf Geophysik, Radiokarbonmethoden, Isotopenuntersuchungen und DNS-Analysen. Was ein Fund vom Partikel noch eines Skeletts, einer Scherbe, eines Fossils, eines Holzstücks oder einer Textilfaser über Herkünfte und Zeitumstände verrät, wirkt nicht nur gegenüber Humboldts, Darwins oder Schliemanns Zeiten revolutionär. Es ist ein Schlüssel zu unserer historischen Identität.
Schon beim Neandertaler gab es ein kulturelles Bewusstsein
Die Weihnachtsgeschichte erzählt als Glaubensgeschichte die Geburt des Gottes- und Menschensohns. Die 200 000 Jahre Vor-Weihnachtszeit aber sind, weit über Glaube, Mythos und spekulative Theorien hinaus, schon Teil unserer Wissenszeit. Die Schrift als wichtigstes Zeugnis des Menschen wurde erst vor gut 6000 Jahren erfunden. Doch lesbar ist die Menschenwelt schon viel früher. Grabfunde mit Beigaben für die Verstorbenen etwa zeigen, dass bereits Vorstellungen von der Transzendenz existierten und die Reflexion der eigenen Sterblichkeit. Es ist die Geburt auch von Riten und Religionen, der von Menschen erhofften oder gefürchteten jenseitigen Götter. Und selbst beim Neandertaler, einem Vorgänger des Homo sapiens, sieht Hermann Parzinger aufgrund von Schmuckstücken aus Tierknochen und Zähnen Anzeichen für ein kulturelles Bewusstsein „als denkendes Individuum“.
Frühe Umweltveränderungen in Papua-Neuguinea
Ob Hermann Parzinger anschauliche Detailbelege von der Sahelzone bis Korea erzählerisch verwebt, ob er von frühen Umweltveränderungen in Papua-Neuguinea, vom Zungenbein eines Neandertalers aus einer Höhle im israelischen Karmelgebirge als Indiz fürs Sprachvermögen berichtet oder von mongolischen Unterkulturen zu Beginn der Bronzezeit: Das wirkt nie esoterisch. Es ist sogar zeitnah, ein wunderbarer Wimpernschlag in der Milliardenjahrgeschichte des Universums. Denn solange die Wimper schlägt, sieht der Mensch den Menschen, und seine Zukunft könnte kürzer sein als seine Herkunft. Deswegen ist alle Science-Fiction, sind die SF-Blockbuster im Kino im Grunde der verzweifelte Versuch einer Rückverzauberung, Nostalgie in der Dämmerung des Menschen.
Das Feuer als Urstoff der Zivilisation
Prometheus hatte den Göttern das Feuer gestohlen und es den Menschen gebracht. Das erzählt der griechische Mythos. Als Licht und Wärmequelle, als Voraussetzung zum Braten, Garen und Räuchern der für die Gehirnentwicklung entscheidenden Proteine ist das Feuer der Urstoff der Zivilisation. Sesshaftigkeit auch in kälteren Zonen und Jahreszeiten und damit Landwirtschaft und Viehzucht werden so erst möglich.
Das prometheische Zeitalter beginnt vor mindestens 50 000 Jahren und ist der Anbeginn auch der künstlerischen Erhellung. Der Feuerschein beleuchtet die Höhlen in Spanien und Südfrankreich, wo vor mehr als 20 000 Jahren vor unserer Zeitrechnung die ersten erhaltenen Felsmalereien von Menschen und Tieren, von der Jagd und sogar der Liebe entstanden sind. Und auf Flöten aus Ochs- und Eselsknochen haben die Hirten auf dem Feld schon lange vor der ersten Weihnacht ihre Melodien gespielt.
- Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. C. H. Beck Verlag, München 2014. 848 S., 39,95 €.
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