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Der Fallout von Atomexplosionen - hier der Test Baker im Juli 1946 auf dem Bikini-Atoll - könnte ein Marker für den Beginn des Anthropozäns sein.
© REUTERS

Anthropozän: Der Mensch schreibt Erdgeschichte

Unser Tun hat gravierende Folgen für die Umwelt. Dennoch wäre es verfrüht, ein neues Erdzeitalter namens Anthropozän auszurufen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ralf Nestler

Die Spuren der Spezies Homo sapiens auf der Erde sind allgegenwärtig. Betonwüsten, in denen sie zu Hunderttausenden zusammenleben, gewaltige Löcher im Untergrund, aus denen sie ihre Rohstoffe klauben, vormals wilde Flüsse, die eingehegt und mit Staustufen versehen sind. Unser Treiben hat längst Auswirkungen von planetarischem Ausmaß. So werden Sedimente durch Staudämme, Landwirtschaft und Bauwesen zehnmal schneller abgetragen als in einer menschenfreien Welt. Auch der Klimawandel hängt maßgeblich mit unserer Spezies zusammen. Nicht zuletzt treiben die Eingriffe in die Natur das sechste Massenaussterben der Erdgeschichte mit an, bei dem mehr als die Hälfte der Arten verschwinden könnten, wenn sich der gegenwärtige Trend fortsetzt.

Ist es erforderlich, der „Menschenzeit“ ein eigenständiges Kapitel in der Erdgeschichte zu widmen? Diese Idee hat in den vergangenen Jahren immer mehr Unterstützer gefunden. Für etliche Künstler und Umweltaktivisten gehört das „Anthropozän“ bereits zum Wortschatz. Nun wollen es einige Wissenschaftler als eigenständige Einheit in der geologischen Zeitskala aufnehmen.

Jede Korrektur muss gut begründet werden

Sie ist ein Heiligtum der Geoforscher: eine große Tabelle, in der die gesamten viereinhalb Milliarden Jahre des Planeten untergliedert sind in Abschnitte wie „Kambrium“, „Jura“ oder „Quartär“. Für jeden einzelnen sind Grenzen festgelegt, vor wie viel Millionen Jahren er begann und endete, zudem sind für die jeweilige Zeit typische Fossilien und Gesteine vermerkt. Für Geologen ist diese Zeitskala so wichtig wie das Periodensystem der Elemente für Chemiker.

Jede Änderung muss gut begründet werden. Oft gehen jahrelange Diskussionen voraus, bevor die zuständige „Internationale Stratigrafische Kommission“ zustimmt. In der Anthropozän-Frage wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um Argumente zu sammeln und zu gewichten. Auf einer Konferenz in Kapstadt präsentierte sie nun ihr Fazit. Demnach ist der Mensch ein dominierender Faktor, das Anthropozän soll in die geologische Zeitskala aufgenommen werden.

Die Öffentlichkeit nimmt die Idee begierig auf

Anders als manche Berichte vermuten lassen („Forscher einigen sich, in welchem Erdzeitalter wir leben“), handelt es sich um eine Empfehlung einer Arbeitsgruppe und nicht um einen endgültigen Beschluss der Geo-Gemeinde. Die ist sich nämlich nicht so einig, wie es scheinen mag. Tatsächlich verstehen es die Anthropozän-Verfechter gut, ihr Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen, die es begierig aufnimmt: Schaut her, was der Mensch für eine Plage ist!

Es spricht einiges gegen eine Korrektur der Zeitskala. Zunächst sind einige Formalien ungeklärt.

1. Wann soll das Anthropozän beginnen? Mit dem Beginn der Landwirtschaft oder mit der industriellen Revolution? 28 der 35 Mitglieder der Arbeitsgruppe befürworten die Zeit um 1950: Zu dieser Zeit begann die „große Beschleunigung“, als der Einfluss des Menschen rapide zunahm und nicht länger lokal, sondern global wirkte.

2. Welches Merkmal kann weltweit als „Grenzstein des Anthropozäns“ erkannt werden? Die Vorschläge reichen vom atomaren Fallout der ersten Kernwaffentests über Mikroplastik, das fast überall im Sediment zu finden ist, Ruß aus Kraftwerken bis hin zu erhöhten Stickstoff- und Phosphatwerten in Böden, die von Dünger herrühren.

3. Wie wird das Anthropozän hierarchisch eingeordnet? Es könnte als eigenes System behandelt werden und würde das Quartär ablösen (es begann vor zwei Millionen Jahren) oder es wäre nur eine Epoche und würde auf das Holozän (seit 11 700 Jahren) folgen.

Kein praktischer Nutzen

Die spannendste Frage lautet: Was nützt ein neues Erdzeitalter? Für die praktische Arbeit im Gelände gar nichts. Menschliche Änderungen in der Landschaft wie etwa Abraumhalden werden längst als solche in Karten gekennzeichnet – selbst wenn sie vor dem mutmaßlichen Anthropozänbeginn Mitte des 20. Jahrhunderts angelegt wurden. Auch als Zeitmarke in der allerjüngsten Erdgeschichte taugt es nicht, dafür sind Jahreszahlen praktischer.

Die Ausrufung des Anthropozäns führte uns allen vor Augen, wie weitreichend und oft irreversibel die Folgen unseres Tuns sind. So lautet ein zentrales Argument der Befürworter. Sie haben recht, ihr Anliegen ist ehrenwert. Mit Geologie hat das aber wenig zu tun. Sondern viel mit Politik.

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