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Sigmund Freud
© Picture-alliance/imagno

Psychoanalyse: Der lange Weg zum Trauma

„Kollektive Projektionen“: Wie die Psychoanalyse jüdische Opfer, Deutschenhasser und gehemmte Nazikinder heilen will.

Im Jahr 1922 trafen sich 165 Analytiker zum Weltkongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) in Berlin. Unter ihnen war der Begründer der Disziplin, Sigmund Freud. Wenn in der vergangenen Woche, siebzig Jahre nach der Zerschlagung der Psychoanalyse durch den Nationalsozialismus, erstmals wieder ein Weltkongress der internationalen psychoanalytischen Community in Berlin tagte – mit nunmehr 3000 Teilnehmern –, ist das ein historisches und politisches Ereignis. Denn das Fach und seine Vertreter haben in Deutschland schweres Leid erfahren. Als die Deutschen 1977 auf dem Kongress in Jerusalem als nächsten Kongressort Berlin beantragten, gab es deshalb einen Aufschrei der Empörung. Immerhin war acht Jahre später der erste Kongress auf deutschem Boden in Hamburg möglich.

Der Unterschied zum Hamburger Kongress, sagte der Berliner Psychoanalytiker Herrmann Beland, sei, dass wir heute besser auf die „Stimme der Toten“ hören könnten. Sie müsse nicht mehr verdrängt werden. Damals in Hamburg hatte die Londoner Analytikerin Hanna Segal gesagt: „Schweigen ist das eigentliche Verbrechen.“ Ohne eine Gesellschaft, die das Sprechen über die erlittenen Traumata sympathetisch begleitet, werden die Opfer aber nicht aus dem Gefängnis ihrer Leiden und der sich daraus entwickelnden Pathologie befreit.

Für diesen 45. Weltkongress in der Geschichte der IPV hatte der Kongressveranstalter deshalb die Großgruppe „Being in Berlin“ erfunden. Dort konnten Ausländer, meist Juden, mit Deutschen über ihre Gefühle sprechen, die sie in Berlin, der Zentrale des einstigen Schreckens, erfassten. Viele der Analytiker, die sich dort versammelten, waren ehemalige Emigranten oder Kinder von Emigranten, alle bewegten die Nachwirkungen des Holocaust. Diese Gruppe erwies sich im Laufe des Kongresses als dessen Herzstück, weil sich ihre assoziativen, emotionalen Beiträge und deren Ernsthaftigkeit viel stärker auf die Teilnehmer übertrugen, als die theoretischen Podien dies vermochten.

Das Kongress-Thema „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Psychoanalyse und Kultur heute“ bezieht sich auf eine Freudsche Schrift von 1914. Die drei Begriffe, Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten – zentral in jedem Leben, zentral in jeder Analyse – versuchten die Teilnehmer des Treffens, positiv aufzuladen und für die Gegenwart stark zu machen. Durcharbeiten ist wohl der wichtigste unter diesen dreien, bewirkt diese seelische Leistung nach Auffassung der Psychoanalyse doch, dass man sich selbst im Zuge der Erinnerung zum Gegenstand der Reflexion macht.

Zwischen Freuds Umgang mit dem Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten und heutigen Analysen besteht gar kein so gravierender Unterschied. Vielleicht kann man ihn so benennen: Die Wegstrecke, die zum Trauma zurückführt, ist aus heutiger Sicht wesentlich länger als früher angenommen. Zu Freuds Zeiten ging man davon aus, mit Hilfe des Erinnerns recht rasch an den Ursprung des Leidens zu gelangen. Die Bewertung des Wiederholens hingegen hat sich insofern erheblich verändert, als das Agieren, das Übersetzen des neurotischen Inhalts durch Handlungen, nicht mehr verpönt ist. Heute erblickt man in dieser Form des Wiederholens vielmehr eine Hauptquelle der Erkenntnis in der Analyse.

Charles Hanley, künftiger Präsident der IPV, brachte dafür ein einleuchtendes Beispiel: Sein Patient war bei einer Prüfung durchgefallen, er war außer sich vor Wut und drohte, den Prüfer umzubringen. Der Analytiker musste diesen Drang zur Tat sofort erfassen, um eine Katastrophe zu verhindern. Er verstand, dass eine Schicht der Persönlichkeit des Patienten so tief verletzt war, dass er morden musste, um sich von dieser Verwundung zu entlasten. Als das ausgesprochen war, kam der Patient wieder in Kontakt zu seiner inneren Welt, berichtete Hanley.

Das Durcharbeiten sehen die Analytiker inzwischen viel komplexer als früher. Es umfasst das ganze Leben, nicht nur einzelne Bereiche. Sämtliche Aspekte der Abwehrhaltung müssen durchgearbeitet werden, denn solange nicht die tiefste unbewusste Schicht der Pathologie verstanden ist, kann therapeutisch nichts wirklich Veränderndes erreicht werden.

Rachel Rosenblum aus Frankreich berichtete über „The dangers of looking back“, über Kinder verschleppter Eltern: Ihre Erinnerungen führten mitunter zu irreparablen psychotischen Zusammenbrüchen. Was ein Grund dafür ist, dass Analysen, die mit schweren Traumatisierungen zu tun haben, so lange dauern. Erinnerungen können nur ganz allmählich verdaulich gemacht werden. Der Analytiker muss zum Homöopathen werden: Die kleinen Potenzen sollen helfen, die großen Krankheiten zu kurieren.

Der Kongress wollte die Freudsche Begriffstrias Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten klinisch am individuellen Fall darstellen, aber eben auch auf das kollektive Schicksal der Deutschen anwenden. So wurden auch die Ergebnisse der „Nazarethkonferenzen“ präsentiert, die sich die „Gestaltung der Zukunft durch die Konfrontation mit der Vergangenheit: Deutsche, Juden und betroffene Andere“ vorgenommen haben. Eine Seite allein, ob Juden und Deutsche, Armenier und Türken oder welche Opfer-Täter-Gruppen auch immer, kann die Schuld und das Trauma nicht wirksam anerkennen und bearbeiten. Der jeweils Andere erst macht Durcharbeiten und psychisches Wachstum möglich, so die Überzeugung der Analytiker. Die Idee der Konferenzen formulierte Beland in seinem Beitrag „I want to meet your horror“ so: Ziel sei es, „die unbewussten kollektiven Verfassungen, von denen Deutsche und Juden entgegengesetzt nach dem Holocaust beherrscht werden, durch die Gegenwart der andern Gruppe hervorzurufen, die unbewussten kollektiven Abwehren zu verringern und die schwer erträglichen Erfahrungen zu ertragen helfen, indem man den anderen damit nicht allein lässt.“

Ein Befund dieser „Nazarethkonferenzen“ lautete, deutsche Analytiker seien im Ausland auf wissenschaftlichen Foren gehemmt. Das erkläre sich aus der paranoiden Projektion dieser Analytiker, grundsätzlich für Nazikinder gehalten zu werden. Wenn die Deutschen jedoch diese Projektion überwänden, dann löse sich diese auf, und auch diejenigen, die sich auf Deutschenhass verpflichtet sehen, seien befreit. Um aus dieser gemeinsamen Projektion herauszukommen, so das Fazit, sei der jeweils Andere notwendig.

Zu diesem Schluss kamen aus ganz anderer Sicht auch Jean Laplanche, einer der bedeutendsten heutigen Analytiker, und die Gender-Theoretikerin und Philosophin Judith Butler. Ihre Begegnung war ein Highlight des Kongresses, denn der vermeintlich klassische Freudianer und die mehr und mehr von der Psychoanalyse inspirierte Judith Butler – eine brillante Freud-Leserin war sie immer schon – fanden Übereinstimmungen. Etwa darin, dass der Andere die Subjektivität konstituiere. Wir werden nicht mit einem readymade-Ich geboren. Mithin untergruben beide das ödipale Verwandtschaftssystem. Wichtiger als Vater-Mutter-Kind sei die grundlegende anthropologische Situation: der Unterschied zwischen dem großen und dem kleinen Menschen, dem Erwachsenen und dem Kind.

Damit dieser „kleine Mensch“ nicht wieder auf Generationen das Opfer neuer, durch politische Kurzsichtigkeit verursachter Trennungstraumata wird, arbeitet die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung an Verbesserungen für den Krippenausbau von Ministerin von der Leyen. Je jünger das Kind desto stärker wird es durch die Trennung von seiner Bezugsperson und eine gänzlich fremde Umgebung gestresst, meinen die Analytiker. Als Reaktion auf diesen Psychostress passt es sich an oder wird aggressiv – eine kaum wünschenswerte Sozialisation, die demnächst aber große Teile der Bevölkerung erfahren würden. So fordern die Analytiker etwa, die Krippenreife eines Säuglings und die Zeit, die es bereits in der Krippe aushalten kann, ärztlich zu testen. Wie in anderen reichen Industrieländern sollen auf eine Erzieherin nicht gemäß deutschen Standards sechs, sondern nur drei Säuglinge kommen. Die Babys sollen nicht mit ständig wechselnden Erzieherinnen konfrontiert werden. Die Krippen sollen geprüft und mit einem Qualitätssiegel versehen werden, damit die Eltern sich orientieren können, die Ausbildung der Erzieherinnen soll auf Fachhochschul-Niveau gehoben werden.

Kollektives Durcharbeiten braucht viel Zeit, mehrere Generationen, wie Freud wusste. Doch der schnelllebige Zeitgeist weht weg vom aufklärerischen Erkenntnisbegriff der Analytiker in Richtung Psychopharmaka oder Verhaltenstherapie. Die mediale Allgegenwart und die durch Gedenkdebatten und Politikerreden inflationierte Erinnerungskultur kaut uns ununterbrochen vor, wie verarbeitet werden soll. Deshalb war das Kongressthema von brennender Aktualität.

Claudio Laks Eizirik, der brasilianische Präsident der IPV, nannte das Treffen ein „einzigartiges historisches Ereignis“. „Offenheit“ sei das meist gebrauchte Wort gewesen; das lokale Organisationskomitee habe so „deutsch“ wie „brasilianisch“ gearbeitet, das heißt fabelhafte Organisation mit Lockerheit kombiniert. So erinnerte dieser Kongress durchaus an die Fußballweltmeisterschaft mit ihrer deutschen Besonderheit: auf der Grundlage eines gebrochenen Nationalbewusstseins dennoch Fahnen schwenken zu können.

Caroline Neubaur

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