Carls rettende Zellen für Emily: Der lange Weg zu einer neuen Krebstherapie
Der Versuch, das Immunsystem gegen Krebs zu mobilisieren, ist uralt und oft gescheitert. Bis es einem gelang, der eigentlich an HIV und Aids forschte.
Es war der letzte, verzweifelte Versuch. An einem Februarmorgen des Jahres 2012 brachten Kari und Tom Whitehead ihre todkranke Tochter Emily ins Children’s Hospital of Philadelphia. In den Wochen und Monaten zuvor hatte keiner der Behandlungsversuche den aggressiven Blutkrebs der Sechsjährigen, eine akute lymphoblastische Leukämie, aufhalten können.
Die letzte Hoffnung war eine zuvor noch nie an einem Kind getestete, absurd aufwendige Experimentaltherapie: Ein Team aus Ärzten und Krebsforschern filterte Immunzellen aus dem Blut des Mädchens und pflanzte den Abwehrzellen eine Art Navi ins Erbgut, damit sie den Weg zu den Krebszellen finden und sie zerstören. Am 17. April 2012 bekam Emily die Zellen gespritzt. Und sofort brach in dem kleinen Körper ein heftiger Kampf zwischen den Immunzellen und dem Krebs aus. Sie halluzinierte, fieberte, fiel ins Koma, war mehr tot als lebendig.
Am Morgen ihres siebten Geburtstags wachte Emily Whitehead auf, erholte sich – und ist seitdem frei von einem Krebs, der sie beinahe umgebracht hätte.
Eine wirklich neue, wirksame Krebstherapie – eine Ausnahmeerscheinung
Wohl jeder Tumorpatient hofft, dass es auch für ihn eine solch wundersame Heilung, diese eine geniale Idee eines Forschers geben wird, die ihn rettet. Die Wahrheit ist: Viel zu oft gibt es sie nicht. Obwohl in Hunderten Labors weltweit immer neue Ideen ersonnen, geprüft und entwickelt werden, wie den Krebszellen zu Leibe zu rücken ist, bleibt es eine seltene Ausnahme, wenn eine neuartige Behandlung tatsächlich funktioniert.
Die Zelltherapie, die Emily und mittlerweile auch vielen anderen Krebspatienten das Leben rettete, ist eine solche Ausnahmeerscheinung. Sie ist, 2017 von den Behörden zugelassen, sogar zu einer der größten Hoffnungen für eine bessere, wirklich langfristig heilsame Krebsbehandlung geworden. Aber sie ist auch ein Beispiel dafür, dass solche Durchbrüche nicht planbar sind, sondern dass es viele Jahrzehnte, merkwürdige Zufälle und abstruse Umwege braucht, bis ein neues Therapiekonzept gegen Krebs geboren ist. Und es braucht Ausnahmeforscher wie Carl June.
„Ohne ihn wäre ich heute nicht hier“, schrieb Emily in einem Artikel für das Time-Magazine, das June 2018 in die Liste der 100 einflussreichsten Menschen des Jahres aufnahm. „Dr. June hat mir das Leben gerettet, er ist mein Held.“ In der Tat sind die Zellen, die Emily vom Krebs befreiten, in erster Linie das Produkt von über zwanzig Jahren Forschung des Mediziners der Universität Pennsylvania. Im Fachjargon heißen sie „Chimäre Antigen-Rezeptor-T-Zellen“ oder kurz CAR-T-Zellen. Doch im Grunde kann man sie einfach „Carls Zellen“ nennen.
Umweg über Navy und HIV-Forschung
Dabei sprach anfangs nichts dafür, dass Carl June zu einer Ikone der Krebsforschung werden, Forschungspreise im Dutzend verliehen bekommen oder gar als künftiger Medizin-Nobelpreisträger gehandelt werden würde. „Ich habe mir das nicht ausgesucht, es ist einfach passiert“, sagte der großgewachsene, schlanke und stets bescheiden höfliche June dem Tagesspiegel am Rande einer Tagung im Max-Delbrück-Centrum in Berlin-Buch. Jahrzehntelang hatte seine Forschung nicht einmal mit Krebs zu tun.
Nach dem College landete June nicht wie erhofft an der renommierten Stanford-Universität in Kalifornien, sondern musste sich bei der Navy verpflichten, um seine medizinische Ausbildung finanzieren zu können. Das zwang den jungen Wissenschaftler, entweder Verletzungen oder Infektionskrankheiten zu erforschen, die Soldaten betreffen könnten - für Erkrankungen wie Krebs war kein Geld vorgesehen.
Also erforschte er das HI-Virus und die Immunschwächekrankheit Aids, erzählt June: „Und das war ein Glück, denn es stellte sich heraus, dass das enorm hilfreich war, um später die CAR-T-Zellen entwickeln zu können.“ Denn Aids-Viren schaden dem Immunsystem auf ähnliche Weise wie Krebs: So wie HIV wichtige Immunzellen abtötet, lähmen auch Krebszellen die Abwehrzellen über eine Vielzahl von Mechanismen.
Jahrelang versuchte June also, bestimmte Abwehrzellen, T-Zellen genannt, gegen HIV zu wappnen. Er lernte, sie aus dem Blut der Aids-Patienten zu filtern. Fand Wege, ihr Erbgut so zu verändern, dass sie HIV-infizierte Zellen aufspüren und abtöten konnten. Und entwickelte Methoden, die frisierten Zellen so zu vermehren, dass sie als wirksames Medikament taugen.
„Unseren ersten Behandlungsversuch mit CAR-T-Zellen wagten wir bei HIV-infizierten Patienten“, sagt June. Damals gab es noch keine wirksamen Medikamente, die Patienten drohten an der Seuche zu sterben. „Und es funktionierte!“ Zwar heilten die CAR-T-Zellen die Patienten nicht, aber ihr Immunsystem stabilisierte sich.
Nach dem Erfolg gegen Blutkrebs sollen nun andere Tumorarten folgen
Kurz nach diesem Erfolg lief Junes Verpflichtung, für die Navy zu forschen, aus. Er wechselte an die Universität Pennsylvania und konnte nun testen, ob die CAR-T-Technik auch für die Krebsbehandlung taugt. „Wir begannen 2001, die ersten Therapieversuche machten wir 2010“ und mit Emily Whiteheads Genesung kam dann der Durchbruch. „Ohne den Umweg über die HIV-Forschung wäre das nicht möglich gewesen“, sagt June.
Bislang werden „Carls Zellen“ nur gegen bestimmte Arten von Blutkrebs eingesetzt. Doch June arbeitet bereits daran, auch andere, „solide“ Krebsarten damit zu bekämpfen, etwa in der Lunge, dem Darm oder Hirn. „Das Problem mit den soliden Tumoren ist, dass uns die Zielstrukturen fehlen“, sagt June. Das Ziel, das June im „Navi“ der CAR-T-Zellen zum Aufspüren von Emily Whiteheads Blutkrebszellen einprogrammierte, war ein Molekül auf der Oberfläche der Krebszellen, das als CD19 bezeichnet wird. Bei soliden Tumoren gibt es diese eine, nur auf den Krebszellen vorkommende Struktur aber nicht. Die CAR-T-Zellen würden auch normale Zellen angreifen.
Aber es gibt Kombinationen von Oberflächenmolekülen, die nur auf Krebszellen vorkommen. June will daher verschiedene, „smarte“ CAR-T-Zellen programmieren. Erst wenn zwei, drei oder mehr dieser CAR-T-Zellen auf einer Krebszelle ihre jeweilige Zielstruktur gefunden haben, wird die Körperabwehr alarmiert. Schon „in ein oder zwei Jahren“ könne diese „smarte“ CAR-T-Zelltherapie fertig für die ersten klinischen Tests sein, meint June.
Denn jetzt sei das Vertrauen in die Immuntherapie und damit auch das Geld endlich da. „Forschungsförderer zu überzeugen, war so schwierig weil es in der Vergangenheit so viele vergebliche Versuche gegeben hatte, Immuntherapien gegen Krebs zu entwickeln“, sagt June. Jetzt sehe die Welt anders aus. Und die Chancen, dass es für den einen oder anderen Krebspatienten die rettende neue Therapie geben wird, sind gestiegen.
Sascha Karberg