Evolution: Der kochende Affe
Ein Forscher behauptet, dass erst die Kochkunst uns zum Menschen werden ließ – und die Ehe begründete
Rohköstler sind ziemlich arm dran, sagt der amerikanische Primatenforscher Richard Wrangham. Schimpansen beispielsweise ernähren sich in erster Linie von Blättern und Waldfrüchten. Der Nährstoffgehalt dieser Nahrung ist allerdings mager, und sie ist dermaßen zäh und schwer verdaulich, dass die Schimpansen jeden Tag allein sechs Stunden damit beschäftigt sind, sie zu zerkauen. Weitere drei bis vier Stunden müssen sie für Verdauungspausen und Verdauungsnickerchen aufwenden.
Bonobos, Gorillas und Orang-Utans kauen etwa ebenso lange wie die Schimpansen. Ganz ähnlich würde es dem Menschen ergehen, wenn die typischen Rohkost-Mahlzeiten der Menschenaffen auch auf seinem Speiseplan stehen würden. Würde sich der Mensch hingegen fast ausschließlich von rohem Fleisch ernähren, dürfte er fast rund um die Uhr damit beschäftigt sein, an ihm herumzuknabbern. Tatsächlich brauchen Menschen fürs Kauen aber nur ein Fünftel bis ein Zehntel der Zeit, die die Menschenaffen dafür aufbringen müssen. Zu verdanken hat das der Homo sapiens einem seiner direkten Vorfahren, dem Homo erectus, der vor 1,9 bis 1,8 Millionen Jahren auf den Plan trat.
Der Homo erectus hat nämlich damals das Feuer gezähmt und das Kochen erfunden. Das behauptet Wrangham jedenfalls in seinem neuen Buch „Feuer fangen“. Diese Erfindung habe weitreichende Auswirkungen auf die Evolution des Homo sapiens gehabt, glaubt der Paläoanthropologe. Zum einen erspare sie viel Zeit. Zum anderen ermögliche sie eine beträchtliche Steigerung der Kalorienzufuhr. Der Mensch, sagt Wrangham, ist nichts anderes als ein kochender Affe.
Menschen haben mit Hunden und Katzen gemeinsam, schnell Fett anzusetzen. Wrangham sieht darin eine Folge des Kochens. Menschen haben eine Vorliebe für gegarte Kost, und Hunden und Katzen wird oft industriell hergestelltes gegartes Futter vorgesetzt. Das Kochen von Nahrungsmitteln bewirkt jedoch, dass dem Körper eine größere Energiemenge zugeführt und ein geringerer Anteil unverdaut ausgeschieden wird. Durch das Erhitzen kommt es nämlich zu einer Art Vorverdauung. Das hat wiederum zur Folge, dass die eigentliche Verdauung, bei der sonst ungeheuer viel Energie verbraucht wird, erheblich erleichtert und beschleunigt wird.
Das Kochen lässt außerdem Gifte zerfallen, es tötet Krankheitserreger ab, es hat eine konservierende Wirkung, und es macht etliche Nahrungsmittel überhaupt erst genießbar. Wrangham vermutet, dass der Homo erectus es geschafft hat, als erster Hominide in andere Klimazonen vorzudringen, weil er sich von Anfang an diese vorteilhaften Eigenschaften des Gekochten zunutze gemacht hat. Aber das ist bei Weitem noch nicht alles.
Das menschliche Gehirn ist derart groß und komplex, dass der Körper dafür 20 Prozent der Energie aufwendet, die er insgesamt verbraucht. Ein solch gigantisches und extravagantes Gehirn kann ein Organismus jedoch nur unterhalten, wenn an anderer Stelle Energie eingespart wird. Nach Wrangham konnte es sich der Homo erectus leisten, sein Gehirn wachsen zu lassen, weil er es sich angewöhnt hatte, stärkehaltige Knollen und andere pflanzliche und tierische Nahrung zu erhitzen. Dadurch wurde seinen Verdauungsorganen jede Menge Arbeit abgenommen, und sie begannen zu schrumpfen.
Es ist nicht eine einzige Gesellschaft bekannt, in der nicht regelmäßig gekocht worden wäre. Selbst die als Rohfleischesser verschrienen Inuit haben in Wahrheit jeden Abend eine warme Mahlzeit zu sich genommen. Doch seit wann es die Praxis des Kochens und der kontrollierten Feuerverwendung gibt, ist nach wie vor nicht geklärt. In verschiedenen Teilen Afrikas hat man allerdings verrußte Steinwerkzeuge, verbrannte Lehmbrocken, angekohlte Tierknochen und verfärbte Erdflecken entdeckt. Diese Funde sind bis zu 1,5 Millionen Jahre alt. Ihre Interpretation ist umstritten, aber in Wranghams Augen gibt es genug Indizien, die für seine Theorie sprechen.
So haben Menschen einen kleinen Mund, schwache Kiefermuskeln, winzige Mahlzähne und einen extrem verkürzten Dickdarm. Diese anatomischen Merkmale passen ausnahmslos schlecht zu einem Rohköstler. Außerdem ist es mit einem derart verkümmerten Dickdarm kaum noch möglich, pflanzliche Nahrung effizient zu verarbeiten. Wenn aber die Frühmenschen mit einem ähnlichen Verdauungstrakt ausgestattet waren, schlussfolgert Wrangham, dann können sie ihren enormen Bedarf an Kohlenhydraten und Fetten nur durch das Garen pflanzlicher Kost gedeckt haben.
Im Gegensatz zu den anderen Primaten hat der Mensch einen äußerst empfindlichen Magen, und gegen etliche Giftstoffe in ungekochter Nahrung ist er schlecht gewappnet. Und sobald er rohes Fleisch vertilgt, läuft er Gefahr, sich eine bakterielle Infektion zuzuziehen. Wrangham sieht hierin eine weitere Bestätigung seiner Grundannahmen. Und er weist auf ein weiteres Indiz hin: Menschen empfinden den Geruch und den Geschmack von Gegrilltem, Gebratenem oder Geröstetem als besonders angenehm. Möglicherweise hat die Evolution den Menschen mit der Fähigkeit ausgerüstet, energiereiche Nahrung an ihrem Geruch und Geschmack zu erkennen.
Aber das ist bei Weitem nicht alles. Wrangham bringt auch die Entstehung der geschlechtlichen Arbeitsteilung, der Ehe, des Patriarchats und des Privateigentums mit der Innovation des Kochens in Zusammenhang. Das Modell des Forschers ist simpel: Angeblich wurden die kochenden Frauen zu Beginn der Zivilisation immer wieder von ausgehungerten Männern überfallen, die sich über die dampfenden Fleischtöpfe hermachen wollten. Schließlich soll es zu einem einfachen Tauschgeschäft gekommen sein: Die Frauen gingen mit Männern langfristige Beziehungen ein und ließen sich von ihnen beschützen, und als Gegenleistung servierten sie ihnen regelmäßig ein warmes Essen.
Auch wenn Wrangham seine Theorie damit überdehnt, die Idee, dass das Kochen einen entscheidenden Einfluss auf die Evolution des Menschen hatte, ist schlüssig und sie erklärt verblüffend viel. Skeptiker wenden gegen Wrangham ein, dass der Homo erectus nicht clever genug gewesen sei, um Feuer erzeugen und das Kochen erfinden zu können.
Ganz anders sieht es der Paläoanthropologe Friedemann Schrenk: „Vor allem die Tatsache, dass das Gehirn sehr viel Energie benötigt, wird schon lange diskutiert“, sagt der Leiter des Forschungsinstituts Senckenberg in Frankfurt. Während Leber, Nieren und andere Organe nicht reduziert werden könnten, gehe das beim Darm, der auch viel Energie verbrauche. Der entscheidende Vorteil beim Kochen ergebe sich bei pflanzlicher Nahrung, sagt Schrenk. „Da wird die Energiegewinnung viel besser, und wenn Wrangham recht hat, dann ist das Kochen eine der treibenden Kräfte in der Evolution der Menschen.“
Richard Wrangham: Feuer fangen. Wie uns das Kochen zum Menschen machte - eine neue Theorie der menschlichen Evolution. DVA, München 2009. 304 S., 22,95 Euro
Frank Ufen