Tinnitus: Dauerton im Kopf
Chronischer Tinnitus lässt sich nur selten heilen - aber man kann lernen, die nervigen Geräusche zu verdrängen.
Es pfeift, es klingelt, es rauscht, es piepst, es brummt, es pocht. Wer unter „Ohrgeräuschen“ leidet, muss sie präzise beschreiben, wenn er von seinen Mitmenschen verstanden werden will. Denn hören können die anderen die Geräusche nicht. Tinnitus, das Leiden, dem sich derzeit im Langenbeck-Virchow-Haus der Berliner Charité 500 Experten aus aller Welt bei einer Fachtagung widmen, kann ein quälender Begleiter sein – oft über Jahre und Jahrzehnte. Für die Mediziner, die ihn zu ihrem Spezialgebiet gemacht haben, ist der Tinnitus jedoch zugleich ein faszinierendes Forschungsfeld.
Oft beginnt es mit einer Innenohr-Schwerhörigkeit
Die Zusammenhänge sind komplex. Die Fachleute bezweifeln daher, ob das Leiden mit dem lateinischen Namen, der lautmalerisch für „Geklirr“ steht, überhaupt als einheitliche Krankheit betrachtet werden kann. Eine reine „Ohrenkrankheit“ ist es auf keinen Fall. Gleichwohl beginnt ein Tinnitus häufig mit Schädigungen der inneren und äußeren Haarzellen der Hörschnecke im Innenohr. Geräusche von draußen, die als Schallwellen über die Gehörgänge und das Trommelfell zum Innenohr gelangen, können dort nur ungenügend aufgenommen und verarbeitet werden. Stattdessen führen Geräusche, die andere gar nicht wahrnehmen, mit der Zeit sozusagen ein Eigenleben im Kopf der Betroffenen. Eine der wichtigen Forschungsfragen lautet daher: Wie kann man die geschädigten Hörzellen im Innenohr zur Regeneration anregen?
Die Gefahr, an solch einer Innenohr-Schwerhörigkeit zu erkranken, nimmt mit dem Alter zu. Gefährdet sind aber auch alle, die viel Lärm um die Ohren haben, unter anderem Berufsmusiker, ob sie nun im Konzertsaal oder in einem Club spielen. Zu den Partnern der Deutschen Tinnitus-Stiftung Charité, die den Kongress in Berlin ausrichtet, gehören aus gutem Grund auch die zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker. Für Musiker ist Vorbeugung besonders wichtig. Neben Hörschutz während des Spielens lauter Passagen gehört auch das richtige körperliche Ausgleichstraining dazu. „Verspannungen der Halswirbelsäule können zum Beispiel bei Geigern dazu führen, dass die Arterie eingeengt wird, die durch die Wirbelsäule zieht und letztlich auch das Innenohr versorgt. Dann ist die Versorgung vorgeschädigter Hörzellen im Innenohr schwieriger“, erläutert die Hals-Nasen-Ohren-Ärztin Birgit Mazurek, Direktorin des Tinnituszentrums der Charité und Präsidentin der Tagung.
Viele Ursachen für Tinnitus
Aber auch internistische Erkrankungen wie Bluthochdruck oder verkalkte Halsgefäße können das Gehör schädigen. Neben den HNO-Ärzten sind deshalb zunächst Internisten und Orthopäden gefragt. Selbst wer keine Einschränkungen beim Hören hat, aber dauerhaft unter Stress steht – den es bekanntlich selbst im geräuscharmen Büro geben kann – hat ein zweifach erhöhtes Risiko, zum Opfer lästiger Ohrgeräusche zu werden. Das hat eine Untersuchung von Barbara Canlon vom schwedischen Karolinska-Institut gezeigt. Kurz: Ein Tinnitus kann viele Ursachen haben.
Die Fehlverarbeitungen von akustischen Signalen, die sich in allen diesen Fällen nach und nach im Kopf einstellen, scheinen jedoch einem einheitlichen Muster zu gehorchen. „Der Leidensdruck entsteht vor allem durch Veränderungen im Bereich des Hippocampus und im Thalamus“, erläutert Mazurek. Der Thalamus ist unter anderem dafür zuständig, dass Sinnesreize zeitweise ausgeblendet werden können, der Hippocampus spielt eine wichtige Rolle für das Gedächtnis. Veränderungen in diesen Hirnarealen tragen dazu bei, dass die Wahrnehmung der unliebsamen Geräusche sich verfestigt.
Nach drei Monaten gilt die Erkrankung als chronisch
Nach drei Monaten gilt ein Tinnitus als chronisch. Dann gehört das Hören der quälenden Ohrgeräusche so sehr dazu, ist so nachhaltig gelernt und ins Gedächtnis eingebrannt, dass Infusionen oder Tabletten mit durchblutungsfördernden Mitteln nicht mehr helfen. Auch Cortison, das direkt nach einem Hörsturz wirksam ist, kann die Geräusche bei chronischen Fällen nicht mehr verhindern.
Was helfen kann, ist Umlernen. Darum geht es bei der wirksamen, aber unter Umständen auch langwierigen „Retraining“-Therapie, die sich auf vier Behandlungssäulen stützt. Erste Säule: Aufklärung und Information darüber, dass beim Tinnitus nicht unbedingt das Hören selbst, sondern die Verarbeitung von Höreindrücken im Gehirn gestört ist, weil verschiedene Schaltstellen nicht mehr gut zusammenarbeiten. Und weil die Ausschüttung von Hirnbotenstoffen sich verändert hat.
Lernen, nicht mehr hinzuhören
In der Ambulanz und Tagesklinik des Tinnituszentrums kann man danach – zweite und dritte Säule – Entspannungsverfahren erlernen und eventuell mithilfe einer kognitiven Verhaltenstherapie damit beginnen, die Fehlverarbeitung wieder zu verlernen. Dabei helfen leise Geräusche, auf die man sich konzentrieren muss. Dafür biete sich Musik an, und zwar solche, die die Betroffenen mögen, sagt Mazurek. „Es muss nicht Mozart sein, obwohl der sehr schön alle Frequenzen beinhaltet.“
Für ihre Patienten sei es immer wieder ein Erlebnis, dass man die störenden Geräusche auf diese Art wirklich wegfiltern kann. Einfach, aber wirkungsvoll. Unterstützung beim Ausblenden bieten auch Rauschgeneratoren, die „Noiser“ genannt werden. Das leise Rauschen, das diese Geräte ständig einspielen, steigert die Aktivität der Nervenbahnen und drängt so die lästigen Störgeräusche ins Abseits. Die vierte Säule der Therapie ist bei Schwerhörigkeit wichtig: Hörgeräte steigern das akustische Angebot und können so den Tinnitus in den Hintergrund drängen. Ihn ganz loszuwerden gelingt dagegen nur selten.
„Lautheits“-Apps, mit deren Hilfe man neuerdings beständig Buch über den unerwünschten Lärm im Ohr führen kann, hält die Tinnitus-Spezialistin dagegen nicht für sinnvoll. „Sie lenken die Aufmerksamkeit ja eher auf das, was man ausblenden sollte.“
Am Sonnabend findet von 11 bis 14 Uhr auf dem Campus Mitte der Charité ein „Offener Tag“ zum Tinnitus statt, mit Vorträgen zu Ursachen, Therapiemöglichkeiten und den Angeboten von Selbsthilfegruppen (Hörsaal der Inneren Medizin, Sauerbruchstraße 2, Eintritt frei).
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