Informationstechnik: Das Überallnet
Sich selbst steuernde Autos, sprechende Obstkisten und Unterwäsche, die den Arzt kontaktiert. Mit dem „Internet der Dinge“ soll unsere Umwelt intelligent werden.
Günther Jauch blickt von seinem Haus in Potsdam auf den Heiligen See und beobachtet eine Ente beim Schwimmen, als das Handy in seiner Hosentasche vibriert. Auf dem Display erscheinen das Bild seines Weinguts in Kanzem an der Saar und ein rotes Warndreieck. Jauch tippt auf das Display, es öffnet sich eine Nachricht: „Die Bewässerungsanlage im oberen Teil des Weinguts ist verstopft. Die letzten Tage waren heiß und trocken, für die nächste Woche ist keine Besserung in Sicht. Bei mindestens drei Weinstöcken gibt es zudem Schädlingsbefall.“ Jauch wählt die Nummer eines Mitarbeiters im 600 Kilometer entfernten Kanzem und bittet ihn, sich darum zu kümmern. Die Weintrauben hätten sich bei ihm beschwert.
Es ist nur eines von vielen Szenarien, mit denen Wolfgang Wahlster eine Zukunft beschreibt, die mit dem Stichwort „Internet der Dinge“ verbunden ist. Der Direktor des Deutschen Forschungszentrums für künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken arbeitet seit Jahren daran, die Kommunikation von Alltagsgegenständen mit ihrer Umwelt zu ermöglichen. Beinahe jeder Gegenstand könnte eines Tages mit Rechnerleistung, Funkantenne, Sensoren und Internetzugang ausgestattet sein, sagt Wahlster. „Die Dinge werden digital veredelt“, nennt er das. Smartphones gibt es schon. Jetzt soll auch der Rest schlau werden.
Bereits vor Jahren träumte der Internet-Vordenker und Informatik-Professor an der ETH Zürich, Friedemann Mattern, von Unterwäsche, die kritische Körperfunktionen misst und bei Bedarf an den Arzt weiterleitet, Rasensprinklern, die durch Konsultation eines Wetterdienstes im Internet effektiver werden oder Autos, die miteinander kommunizieren.
Technisch möglich ist das alles schon heute. Grundlage dafür ist die Radio-Frequenz-Identifikation (RFID): Kleine, mit einer Antenne verbundene Computerchips haften auf Alltagsgegenständen und erkennen diese, quasi als Weiterentwicklung der bekannten Strichcodes. Funkt ein Lesegerät sie mit elektromagnetischen Wellen an, gibt der RFID-Chip – meist als „Tag“ bezeichnet – seine Kennnummer preis. Dies reicht, um in einer Datenbank nachzuschlagen, wo das Produkt hergestellt, zwischengelagert oder verarbeitet wurde. Je nach gespeicherter Datenmenge können die Chips winzig wie ein Reiskorn oder groß wie ein Schuhkarton sein. Sie benötigen nicht einmal eine Batterie, denn die zur Datenübertragung erforderliche Energie erhalten sie durch die empfangenen Funkstrahlen.
Unter uns sind diese Chips schon lange. Wäschereien optimieren damit ihren Produktionsablauf, Skifahrer öffnen drahtlos das Drehkreuz zum Lift und Büchereien ermöglichen ihren Kunden so die Ausleihe und Rückgabe der Bücher. Das US-Marktforschungsunternehmen ID-Tech-Ex schätzt, dass allein dieses Jahr weltweit knapp drei Milliarden Funkchips im Wert von 7,7 Milliarden Dollar verkauft werden.
Die Zukunft gehört vor allem jenen RFID-Tags, die nicht nur ausgelesen werden können, sondern selber aktiv werden – und dazulernen. Seit Jahren arbeiten Forscher daran, Chips mit Sensoren auszustatten, die Temperatur, Licht und Feuchtigkeit messen, Erschütterungen oder auch Gase registrieren können. Die Firma DHL hat bereits Pakete für Blutkonserven entwickelt, auf denen Funkchips haften. Die alarmieren dann den Fahrer, falls die Kühlung ausgefallen ist. Handelsunternehmen in der Schweiz wiederum setzen RFID-Etiketten ein, die den Reifegrad von Obst anhand von Ethylengas erkennen und so vor abgelaufenen Waren warnen – oder den Kunden per SMS über das bald eintreffende Sonderangebot im Supermarkt informieren.
Solche aktiven Tags brauchen allerdings Energie. Wahlster zufolge ist das eine der zentralen Herausforderungen für die Entwicklung des Internets der Dinge. Um nicht auf große Akkus oder eine kabelgebundene Stromversorgung angewiesen zu sein, wollen die Forscher Quellen aus der Umgebung nutzen: Luftströme, Licht, Temperaturunterschiede oder Bewegungen. „Energy harvesting“, also Energieernte, heißt das Prinzip. „Die interessanteste Quelle sind elektromagnetische Wellen“, sagt Wahlster. Denn egal ob Radio, TV-, Mobilfunk- oder W-Lan-Netze: „Irgendeiner funkt doch immer.“
Auf ein Mix verschiedener Energiequellen bauen die Forscher des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik und der TU Dortmund. Sie haben einen für die Logistik bestimmten „intelligenten Behälter“ (inBin) entwickelt, der seine Energie aus Vibrationen, Temperaturschwankungen und einer wenige Quadratzentimeter kleinen Solarzelle bezieht. Dank Batterie kann sich der Behälter auch dann melden, wenn er lange unbewegt in der Dunkelheit steht. „Bis zu 7000 Meldungen sind möglich, bevor er wieder neue Energie benötigt“, sagt der Fraunhofer-Forscher Michael ten Hompel.
Der intelligente Behälter ist ein Beispiel für die Logistik der Zukunft: Transportgefäße, die ständig online sind und ihre Wege selbst organisieren. Der Mensch soll nur noch kontrollieren. „Vor einigen Jahren träumten wir davon, die Rechnerleistung an den Behälter zu kleben, mit der wir 1969 zum Mond geflogen sind. Heute haben wir Prozessoren zur Verfügung, die noch mehr können“, sagt ten Hompel. „Ich nehme diesen Begriff nur selten in den Mund. Aber das Internet der Dinge ist ein Paradigmenwechsel. Es verändert die Welt grundlegend.“
Die Anwendungen sind anscheinend unbegrenzt, die Wirtschaft träumt von einer „vierten industriellen Revolution“. In Kaiserslautern hat das DFKI eine „smart factory“ gebaut, die zum Beispiel Shampoos in tausenden Varianten herstellen kann, je nach Kundenwunsch. Denkbar sind auch Elektroautos, die sich über das Internet während der Fahrt zu „Roadtrains“ zusammenkoppeln und – wie eine Gruppe Radrennfahrer – dank des Windschattens Energie sparen. Wenn sich die Autos auch noch mit anderen Verkehrsteilnehmern über das Internet austauschen, könnte irgendwann sogar einmal der ampellose Verkehr möglich sein, glaubt Wahlster. Auf Teststrecken in Bremen hat das DFKI die Elektroautos bereits erfolgreich erprobt, in China soll das Projekt nun fortgesetzt werden.
Der Umsetzung des Internets der Dinge stehen allerdings noch zahlreiche technische Hürden entgegen. So müssen beispielsweise gemeinsame Standards bei den Schnittstellen geschaffen werden, die eine Verständigung zwischen unterschiedlichen Umgebungen und Objekten ermöglichen.
Außerdem ermöglicht der derzeit übliche Standard zur Datenübertragung im Internet nur rund vier Milliarden Internetadressen – zu wenig, um jedem Objekt eine eigene „Anschrift“ zu geben. Ohne diese können aber weder Computer noch andere Geräte ihre Daten austauschen, weil die Adressen wie Lieferanschreiben für Pakete funktionieren. Hoffnung macht das im Juli eingeführte neue Internetprotokoll namens IPv6, das 340 Sextillionen Adressen bereithält. Eine Zahl mit 36 Nullen. Jedes Sandkorn des Planeten könnte dadurch theoretisch online gehen.
Selbst die Möglichkeit, dass sich Menschen digitale Intelligenz einverleiben, wie sie William Gibson vor knapp 30 Jahren in seiner Romantrilogie „Neuromancer“ beschrieb, ist keine reine Science-Fiction mehr. Das US-Unternehmen PositiveID hat bereits implantierbare RFID-Chips hergestellt, mit denen man seine Wohnungstür öffnen, den PC entsperren oder bei der Einlieferung in ein Krankenhaus Patientendaten auslesen kann. Als nach Hinweisen auf mögliche Gesundheitsgefahren die Nachfrage für die Chips abnahm, stellte die Firma den Vertrieb vor zwei Jahren ein.
Für viele ist ein solches Mensch-Maschine-System ohnehin eine Horrorvorstellung. Datenschützer wiederum sorgen sich, dass autonome Rechner mehr Kontrolle über uns erlangen, als uns lieb ist. Peter Schaar, Bundesbeauftragter für Datenschutz, fürchtet etwa, dass durch die Verknüpfung der vielen Daten Verhaltens- oder Bewegungsprofile erstellt werden könnten. Möglich wäre zum Beispiel eine dynamische Autohaftpflichtversicherung, die ihre Prämie nicht nur von der Kilometerleistung, sondern vom individuellen Risiko abhängig macht – und überhöhte Geschwindigkeit, gewagte Überholmanöver oder einen Ausflug bei unsicheren Straßenverhältnissen in die Versicherungskosten einpreist.
Das US-Militär wiederum forscht seit Jahren am „smart dust“, intelligentem Staub: Winzige Chips sollen – über große Gebiete verteilt – Informationen über militärische Kampfgebiete melden. Oder aber Menschen, die damit in Berührung kommen, über einen längeren Zeitraum lokalisieren.
Forscher wie ten Hompel halten diese Vision wegen der ungelösten Energieversorgung für so kleine Chips zwar für physikalisch unmöglich. Bewahrheitet hat sich dagegen der sorglose Umgang mit RFID-Chips im Einzelhandel. So hatte der Datenschutzverein „Foebud“ (Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs) Anfang des Jahres vor einem Modeladen in Bielefeld demonstriert, wie man mit einem „handelsüblichen Lesegerät“ aus mehreren Metern Entfernung die Identifikationsnummern der Kleidungsstücke auslesen kann. Die Datenschützer zeigten den verdutzten Kunden, welche Informationen man dank der „Schnüffelchips“ erhalten kann. Etwa wie teuer das Jackett war und wann es gekauft wurde. Der Foebud fordert deshalb, dass Unternehmen die RFID-Chips von gekauften Waren an der Kasse entfernen müssen. „Die Technik ist für die Logistik wunderbar“, sagt Foebud-Aktivistin Rena Tangens. „Aber Menschen sind keine Versandpakete.“
Michael ten Hompel hat Verständnis für die Kritik. „Wir müssen mit den Daten sorgsam umgehen. Sonst sägen wir den Ast ab, auf dem wir uns befinden.“ Momentan gelten Deutschland und die Schweiz bei der Forschung zum Internet der Dinge als führend. Und das Thema Datenschutz wird auch international bedeutender. Anfang 2011 unterzeichnete EU-Kommissarin Neelie Kroes mit Industrievertretern aus Europa und den USA eine Vereinbarung, die den Einsatz der Funkchips auf freiwilliger Basis regelt. So sollen die Firmen dokumentieren, welche Daten wo und wie lange gespeichert werden. Zudem soll eingestuft werden, wie groß das Risiko des RFID-Einsatzes für die Privatsphäre ist.
„Das Problem ist, dass die Vereinbarung nicht verpflichtend ist“, sagt Tangens. „Sie muss Gesetzesrang haben, sonst werden sich die Unternehmen kaum dran halten.“ Tangens hat aber noch grundsätzlichere Vorbehalte. Bereits entwickelte Anwendungen wie RFID-Chips, welche in den Lebensmitteln stecken und vor ungesunder Nahrung warnen sollen, seien höchst manipulativ. „Die Fremdbestimmung durch Gegenstände, die einem die ganze Zeit sagen, was wir tun sollen, das nimmt uns unsere Mündigkeit“, warnt sie.
Michael ten Hompel sieht die Sache optimistischer. „In einigen Jahrzehnten werde ich nicht mehr so fit sein“, sagt der heute 53-Jährige. Die Teilhabe am Leben werde für ihn trotzdem möglich sein, weil es dann viele kleine Helfer gebe. Das Auto, welches er nicht mehr selbst steuern muss, das Blutdruckmessgerät, das Warnungen an den Arzt schickt, oder die Medikamente, die ihm automatisch an die Haustür gebracht werden. „Diese Individualität wird durch das Internet der Dinge erst möglich.“
Ein Problem, das man bereits aus dem klassischen Computerzeitalter kennt, werde man aber auch im Internet der Dinge nicht los, gesteht ten Hompel. Viren. „Die Schnittstellen nach außen bieten neue Angriffsmöglichkeiten“, sagt Marco Preuß vom Sicherheits-Softwareentwickler Kaspersky Lab und verweist darauf, dass Hacker bereits Insulinpumpen, Herzschrittmacher und Drohnen manipuliert haben. In Zukunft könnten uns also Schadprogramme in einen Stau lotsen, Rasensprinkler auf Dauerbetrieb stellen oder den Kühlschrank mit Dingen füllen, die wir überhaupt nicht mögen.