zum Hauptinhalt
Geheimnis Gehirn. Was wirklich hinter seelischen Störungen steckt, ist zu einem wesentlichen Teil noch ungeklärt.
© Adrian Weston/Mauritius

Hirnforschung: Das Rätsel der kranken Psyche

Seelische Störungen wie Depression oder Schizophrenie gelten als Fehlregulationen des Gehirns. Aber diese Erklärung hat Lücken, sagen jetzt Mediziner.

Früher galten psychische Erkrankungen als Störungen des Seelenlebens eines Menschen. Heutzutage sehen sich Patienten mit Depression, Schizophrenie oder ADHS mit einer anderen Idee konfrontiert: Ihre seelischen Probleme hätten im Wesentlichen ihren Ursprung in dem rund 1300 Gramm schweren Organ in ihrem Kopf. Sie gingen letztlich auf Fehlregulationen im Gehirn wie etwa ein chemisches Ungleichgewicht zurück. Diese Botschaft begegnet Betroffenen immer wieder in den Medien, etwa in Reportagen wie dem Dokumentarfilm „Das Dunkle Gen“, in dem ein an Depression erkrankter Arzt die möglichen genetischen Ursachen seiner Erkrankung ergründen möchte. Doch die jahrzehntelange Spurensuche im Gehirn hat gezeigt, dass diese Botschaft oft zu simpel gestrickt ist.

Andreas Heinz hat in den letzten zwei Jahrzehnten unzählige Bilder des Gehirns von psychisch Kranken angefertigt. Immer wieder stieß der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité auf Auffälligkeiten. Es gebe bei psychischen Störungen Entsprechungen im Gehirn. „Bei manchen psychischen Störungen können sie auch diagnostisch helfen“, sagt Heinz. Der Psychiater verweist etwa auf die Alzheimer-Erkrankung. Eine mögliche Ursache dieser Krankheit ist ein falsch gefaltetes Eiweiß namens Beta-Amyloid. Das Protein sammelt sich bei den Betroffenen im Gehirn außerhalb der Nervenzellen an und verklumpt zu den berüchtigten „senilen Plaques“.

Demenz hinterlässt meist eine eindeutige Spur im Gehirn

Im Liquor, dem Nervenwasser, das Gehirn und Rückenmark umspült, können Ärzte Hinweise auf dieses und andere verdächtige Proteine ausfindig machen und so den Verdacht auf eine Alzheimer-Demenz diagnostisch untermauern. Doch solch klare neurobiologischen Indizien sind von Patienten mit anderen psychischen Störungen nicht bekannt.

Wie dünn die derzeitige Befundlage ist, zeigt ein Blick in die Diagnosehandbücher der Psychiatrie. Eigentlich sollte das amerikanische Handbuch DSM in seiner fünften Auflage von 2013 Hinweise auf Biomarker enthalten – also etwa Hirnveränderungen, Genvarianten oder die Konzentration bestimmter Botenstoffe, die mit psychischen Erkrankungen einhergehen. Von solchen Biomarkern erhoffen sich Psychiater eindeutige Diagnosen, die nicht nur wie bislang auf Symptomen beruhen, sondern auf handfesten Labortests. Doch auf den über 1000 Seiten des DSM sucht man vergebens nach neurobiologischen Markern.

„Bei anderen psychischen Störungen als Demenz ist es schwierig, verlässliche Biomarker zu finden“, gibt Heinz zu. „Bei schizophrenen Psychosen etwa sind zwar die Werte des Botenstoffs Dopamin um rund zehn Prozent erhöht, allerdings nur im Schnitt – über viele Patienten hinweg gemittelt.“ Die Höhe des Dopamin-Spiegels im Gehirn eines einzelnen Patienten ermöglicht also keine eindeutige Aussage über seinen psychischen Gesundheitszustand. Echte Biomarker liegen in weiter Ferne.

Auffälligkeiten? Es ist keineswegs klar, was sie bedeuten

Und selbst wenn man schon heute im Gehirn psychisch kranker Menschen auf Auffälligkeiten stößt, ist keineswegs klar, was sie bedeuten. Das betont Herta Flor, wissenschaftliche Direktorin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Während sich neurologische Störungen wie ein Schlaganfall auf eindeutige Schädigungen im Gehirn zurückführen ließen, fände man bei psychischen Erkrankungen keine klaren ursächlichen Veränderungen. „Wenn ich auf einem Bild aus dem Magnetresonanztomografen Hirnveränderungen sehe, heißt das nicht, dass dies die Ursache einer psychischen Störung ist“, sagt die Psychologin. „Es kann sich auch lediglich um eine nervliche Begleiterscheinung einer solchen Störung handeln.“

Das kann man sich am Beispiel Depression vor Augen führen. Wenn ein Mensch aufgrund von Überforderung in der Familie und im Beruf depressiv wird, wird sich das mit der Zeit im Gehirn niederschlagen. Die biologische Veränderung wäre in solch einem Fall aber keineswegs die Ursache der Depression.

Eine typische Auffälligkeit im Gehirn von Patienten mit einer schweren und langjährigen Depression ist ein im Vergleich zu Gesunden oft kleinerer Hippocampus, der für das Langzeitgedächtnis wichtig ist. Ob dies eine der Ursachen oder eine Folge der Depression ist, ist bislang unklar. Etwas Licht ins Dunkel brachte 2016 eine große Metaanalyse. Ein internationales Forscherteam um die Neurowissenschaftlerin Lianne Schmaal vom VU University Medical Center in Amsterdam verglich die Magnetresonanztomografie-Daten von mehr als 1700 Patienten mit Depression mit den Aufnahmen von knapp 7200 gesunden Personen. Wie sich zeigte, war der Volumenschwund des Hippocampus bei Patienten mit wiederkehrender Depression am stärksten ausgeprägt. Bei Personen nach einer ersten depressiven Episode hingegen konnten die Forscher noch keine Verkleinerung nachweisen.

Eine zu einfache Erklärung für komplexe Leiden

Das legt zumindest nahe, dass der Volumenrückgang eher Folge als Ursache der Depression ist. Und es könnte mit dem seelischen Stress zusammenhängen, unter dem Depressive längere Zeit stehen. Dabei schüttet der Körper immer wieder Cortisol aus. Das Stresshormon nagt vor allem an den Nervenzellen im Hippocampus, weil sich in diesen Zellen besonders viele Andockstellen für Cortisol befinden.

Im Gehirn lassen sich bislang die Ursachen von psychischen Erkrankungen nicht eindeutig dingfest machen. Dennoch hat sich eine einfache Erklärung für diese komplexen Leiden durchgesetzt. Sie besagt, dass etwa ADHS, Depressionen oder Angststörungen auf einem chemischen Ungleichgewicht basieren. Medikamente wie Antidepressiva oder Ritalin könnten dieses Ungleichgewicht wieder beheben. Im Falle der Depression scheint die in vielen Studien nachgewiesene Wirkung von Antidepressiva dieser Theorie recht zu geben. Schließlich setzen Antidepressiva genau an chemischen Botenstoffen im Gehirn an. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer etwa erhöhen die Verfügbarkeit des Botenstoffs Serotonin an den Kontaktstellen der Nervenzellen und scheinen damit einen Mangel auszugleichen.

Doch mittlerweile hegen Forscher Zweifel an der Annahme, so etwa der Psychologe Irving Kirsch von der Harvard Medical School: „Die Serotoninhypothese der Depression ist falsch, weil unterschiedliche Antidepressiva zum gleichen Ergebnis führen, – auch wenn sie den Serotoninlevel gar nicht beeinflussen oder den Level sogar senken.“ Und er fügt ein weiteres Argument an, dem man immer wieder in der Fachliteratur begegnet: „Wenn man bei gesunden Menschen ohne eine Geschichte einer Depression das Serotonin künstlich absenkt, werden sie nicht depressiv.“

Andreas Heinz sieht das Botenstoffsystem im Gehirn dennoch an der Erkrankung beteiligt. „Störungen des Serotoninsystems gehen einher mit einer schlechteren Befindlichkeit“, sagt er. Doch er gibt zu, dass es bei bei Patienten mit einer schweren Depression keine einheitliche Entsprechung in dem Neurotransmittersystem gibt. Welche Rolle genau der Botenstoff bei einer Depression spielt, ist also weiterhin ungeklärt. Eines scheint aber jetzt schon klar: Die Erklärung, Depression gehe auf einen reinen Serotonin-Mangel zurück, ist mit Sicherheit zu einfach.

Christian Wolf

Zur Startseite