Vom Wert eines Unwertes: Das Prinzip Misstrauen
Weltweit wird Misstrauen im politischen Kampf instrumentalisiert. Aber Misstrauen kann auch konstruktiv wirken – und manchmal die Welt retten.
In einem Bunker der sowjetischen Flugabwehr nahe Moskau wird am 26. September 1983 kurz nach Mitternacht Alarm geschlagen. Der Computer meldet, dass sich eine Atomrakete aus dem US-Bundesstaat Montana auf den Weg in die Sowjetunion gemacht hat. Laut Protokoll hat die sowjetische Führung nun 28 Minuten Zeit, um über einen atomaren Gegenschlag zu entscheiden. Es liegt am Oberkommandanten Stanislaw Petrow, die Nachricht an die Heeresleitung zu übermitteln. Der geht davon aus, dass die Meldung zum sofortigen Abschuss sowjetischer Atomraketen auf die USA führt – mit dem Ziel der totalen Vernichtung des Angreifers.
Aber Petrow meldet den Vorfall nicht weiter. Kurze Zeit später werden vier weitere Atomraketen gemeldet, mit dem gleichen Ziel. Doch auch jetzt greift Petrow nicht zum Telefonhörer. Die Zeit, noch einen Gegenschlag einzuleiten, wird knapp; in wenigen Minuten muss damit gerechnet werden, dass die Raketen auf sowjetischem Boden einschlagen. Doch sie tun es nicht. Der Alarm hat sich als Fehlalarm erwiesen.
Das Misstrauen, das die Welt rettete
Erst nach Ende des Kalten Krieges kann Petrow in dem Dokumentarfilm The Man Who Saved the World über diesen Vorfall reden. Befragt über seine Gründe, die Meldungen über US-amerikanischen Raketenbeschuss zurückzuhalten, führt er in erster Linie sein Misstrauen gegen den Computer ins Feld. Was, wenn der Computer Fehler gemacht hat? Petrow versuchte, mit anderen technischen Mitteln zusätzliche Informationen zu gewinnen. Auf den Satellitenbildern waren die Raketen nicht zu sehen, was allerdings auch an den vorherrschenden Lichtverhältnissen liegen konnte. Sicheres Wissen war nur um den Preis zu haben, abzuwarten, bis die Raketen auf dem sowjetischen Radarschirm auftauchten – oder eben auch nicht.
Petrow entschied sich für dieses sichere Wissen und damit gegen die Möglichkeit eines unmittelbaren atomaren Gegenschlages, wie er in der sowjetischen Militärdoktrin vorgeschrieben war. Damit scheint eine weitere Form des Misstrauens durch: Misstrauen gegen das System. Dieses Misstrauen wird von Petrow in dem Film genauestens benannt. Welchen Sinn kann es haben, einem System zu vertrauen, das die Auslöschung allen Lebens auf der Welt in Betracht zieht? Es ist ein Misstrauen gegen die militärische Logik, die in Zeiten des Kalten Krieges sowohl die Sowjetunion als auch die USA geprägt hat. Nur dieses Misstrauen hat es Petrow erlaubt, sich über Staatsraison und Militärdoktrin zu erheben. Ohne dieses Misstrauen würden wir heute vielleicht nicht mehr leben.
Künstliches Misstrauen
Die Technisierung der Welt und damit die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen in den Bereich der Künstlichen Intelligenz schreitet voran. Das Verwischen der Grenze zwischen Mensch und Maschine erzeugt Unbehagen, die schwer zu prognostizierenden Lernprozesse von Robotern machen misstrauisch, ob das hierarchische Verhältnis zwischen Mensch und Roboter aufrechtzuerhalten ist: Wer beherrscht in Zukunft wen?
Neben der künstlichen Intelligenz bieten neueste Kommunikationstechnologien ebenfalls Grund zu misstrauen, stellen diese doch zahlreiche Möglichkeiten zur Manipulation von Prozessen der Meinungsfindung bereit. So wird die russische Regierung der Unterstützung von Hackern beschuldigt, die mittels falscher Konten auf sozialen Medien Meinungsmache für den konservativen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump betrieben und gezielt Falschmeldungen gestreut hätten. Außerdem wird Russland nachgesagt, eine Trollfabrik in St. Petersburg zu betreiben, aus der Social-Media-Portale wie Facebook oder die Kommentarbereiche großer Nachrichtenportale täglich mit Kreml-freundlichen Inhalten gefüttert werden.
Länder wie Saudi-Arabien lernen von Russland und schicken ihrerseits Trolle ins Feld. Als beispielsweise im Sommer 2018 die kanadische Regierung Saudi-Arabien für die Inhaftierung der Frauenrechtlerin Samar Badawi kritisierte, trat das saudische Königshaus einen Shitstorm auf Twitter los. In unzähligen Tweets ist das Immergleiche zu lesen: „In Saudi-Arabien sorgen wir uns über den kulturellen Genozid, den Kanada an indigenen Menschen verübt. Wir unterstützen außerdem das Recht Québecs, ein unabhängiger Staat zu werden.“ Amerikanische Unternehmen wie Google hingegen stehen hinter der Gründung scheinbar zivilgesellschaftlicher Gruppierungen, die massenweise Mails und Tweets an Politiker verschicken, um Copyright-Gesetze zu verhindern, die sich für Google nachteilig auswirken könnten.
Misstrauen als politisches Mittel
Es scheint, als würde von verschiedensten Seiten aus daran gearbeitet, die Glaubwürdigkeit von politischen und zivilgesellschaftlichen Institutionen zu untergraben. Wem dabei vertraut und wem misstraut wird, ist häufiger eine Sache der politischen Überzeugung als der faktenbasierten Entscheidung. Misstrauen wird instrumentalisiert und zu einem Mittel in der politischen Auseinandersetzung gemacht.
Und so schaukelt sich Misstrauen gerade hoch. Weltweit, so zeigen Umfragen, wächst das Misstrauen gegen Konzerne, Regierungen, Nichtregierungsorganisationen und Medien. Daran haben zahlreiche Skandale und Krisen ihren Anteil, darunter die weltweite Banken- und Finanzkrise, die Eurokrise, der Diesel-Skandal und die NSA-Überwachungsaffäre. Zu ergänzen wären für Deutschland die weiterhin unfassbare Verwicklung des Verfassungsschutzes in die Taten des NSU oder der nach wie vor ungeklärte Tod von Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau.
Misstrauen wird auch gezielt befeuert. Diese Befeuerung ist Teil einer Agenda, die unter dem Schlagwort „postfaktisch“ gefasst werden kann. Ein wesentlicher Protagonist ist der US-amerikanische Präsident Trump. Nicht nur, dass Trump aus seinem Misstrauen gegen missliebige Medien keinen Hehl macht; er fordert dieses Misstrauen von seinen Bürgern auch ein, indem er diese Medien als „Fake News“ bezeichnet. Dabei verbreitet Trump in seinen unzähligen Tweets selbst zahlreiche Unwahrheiten und trägt damit zur Erosion des Faktischen bei. Manche vermuten, sein Ziel bestehe darin, die Grenze zwischen Faktum und Lüge beziehungsweise zwischen Vertrauenswürdigem und nicht Vertrauenswürdigem bis zur Unkenntlichkeit zu verwischen. Übrig blieben Irritation und Konfusion – ein Zustand, der sich hervorragend zur Indoktrination eignet.
Woran sich Demokratien messen lassen müssen
In seinem Roman 1984 brachte George Orwell den Effekt einer solchen Propaganda auf dem Punkt: Sie soll den Bürger lehren, „der Erkenntnis seiner Augen und Ohren nicht zu trauen“. Das politisch gewollte und geförderte Misstrauen in die eigenen Fähigkeiten soll mit einem absoluten Vertrauen in die Regierung kompensiert werden. Eine solcherart absolut gesetzte Verteilung von Vertrauen und Misstrauen ist charakteristisch für Diktaturen. Durch die Darstellung von politischen Maßnahmen als „alternativlos“ und die politische Ächtung von Misstrauen in staatliche Akteure wie Polizei oder Grenzschutz zeigen sich jedoch auch Demokratien wie die der Bundesrepublik anfällig für eine Diskreditierung des Misstrauens im Namen der politischen Autorität.
Jede Demokratie muss sich letztlich daran messen lassen, wie viel Misstrauen ihrer Bürger sie zulässt und beachtet. In der aktuellen Situation, die durch die diskursive Abwertung von Misstrauen gekennzeichnet ist, täten Regierungen gut daran, sich die konstitutive Rolle des Misstrauens für die Bewahrung und Stärkung von Demokratie in Erinnerung zu rufen. Und sich deutlich vor Augen zu führen, in welche Verhängnisse die so häufig eingeforderte Aussetzung von Misstrauen in der Weltgeschichte einmündete.
Der Autor ist Sozialanthropologe. Der Text basiert auf seinem Buch „Misstrauen: Vom Wert eines Unwertes“, das gerade im Reclam Verlag in der Reihe „Was bedeutet das alles?“ erschienen ist.
Florian Mühlfried