Postkartenidyll: Das Lächeln von Neapel
Chiaia ist eine Insel der Seligen mitten in der süditalienischen Metropole. Ein Postkartenidyll – ohne Dreck, ohne Gewalt.
Ob Camorra oder Korruption, Verkehrschaos oder meterhohe Müllberge – immer wieder taumelt diese Millionenmetropole am Rande des Abgrunds. Und manchmal darüber hinaus. Also Neapel sehen und sterben? Nicht ganz. Es gibt einen Ort direkt in der Stadt, an dem der Touristentraum von Süditalien wahr wird: Chiaia. Zweieinhalb Quadratkilometer, 40 000 Einwohner. Im Norden begrenzt durch schroff ansteigenden Tuffsteinhügel, im Süden durch das Mittelmeer, zusätzlich abgeschirmt durch den Autotunnel Galleria della Vittoria. Ein einziger Weg führt direkt in diese Enklave, die Einkaufsmeile Via Chiaia.
Gleich am Anfang der Straße krächzt aus den Boxen eines schwarzen Kastens der Fünfziger-Jahre-Gassenhauer „Americano“. Ein vielleicht fünfjähriger Knirps imitiert schrammelnd die Akkorde, schwankt unter dem Gewicht seiner Gitarre. Einige Meter weiter klatscht ein lautstarker Straßenverkäufer gelbe und rosafarbene Bälle auf die dunkle Steinbank. Platzend zerlaufen sie zu einem Teppich aus Glibber, um Sekunden später wie von Geisterhand ihre ursprüngliche Form wieder anzunehmen. Kleiner Zirkus, große Illusionen: Wegweiser nach Chiaia.
Je weiter man der ansteigenden Einkaufsstraße folgt, desto prächtiger die Fassaden. Umrankt von Wein und trocknender Wäsche sind sie seit Generationen die perfekte Fotokulisse. So soll Romantik, so muss Neapel aussehen. Lacoste-Krokodile ersetzen schließlich die streunenden Katzen und endlich betritt man das Theater des „bene Napoli“, des guten Neapel, wie die Anwohner es nennen.
„Mir kommt es hier eher vor wie Paris oder Stockholm“, sagt Federico Iervelino, geboren und aufgewachsen in Chiaia. „Es sind nicht allein die Luxusläden: Busse und U-Bahn fahren pünktlich und regelmäßig, die Schulen sind gut ausgestattet und der Verkehr fast normal. Aber vor allen Dingen ist es hier sicher, besonders abends.“
Eine exklusive Welt war Chiaia schon immer. Früher residierten hier die Könige von Neapel, und fürstlich ist auch heute noch das Angebot an Edelboutiquen. Ob Hermés, Ferragamo, Gucci, Armani oder Prada: Alle sind sie hier.
Chiaia soll einem idealen Universum aus Einkaufen und Unterhaltung gleichen. Nicht zuletzt für Touristen. An kaum einem anderen Ort zeigen sich so häufig die Carabinieri, findet sich so viel Polizia Municipale. Als der Rest Neapels am faulenden Müll zu ersticken drohte, fand sich hier kaum mehr als eine verlorene Plastiktüte. Nichts soll das Bild stören, das die Reiseführer über Chiaia verbreiten. Die Stadt bereitet so die Bühne und die Anwohner bespielen sie gerne.
Piazza dei Martiri, vormittags. Die letzten Meter der Via Chiaia führen auf den Platz der Märtyrer, der an die Freiheitskämpfer Italiens erinnert. Hier liegt das Café La Caffettiera. Es gibt kaum noch freie Plätze auf der großzügigen, überdachten Terrasse. Komplimente und Küsschen werden ausgetauscht, während Kellner erste Camparis servieren. Die Signori von dreißig bis sechzig zeigen sich im perfekt sitzenden Dreiteiler, auch die meist jüngeren Frauen wissen sich darzustellen. Der Arbeitstag dieser Anwälte, Notare oder Bankiers besteht scheinbar im Austausch von Telefonnummern und Kontakten zwischen Aperitif und Lächeln. Gekämpft wird hier nur um den Beweis, die Rechnung bezahlen zu können.
In dem müden und ausgelaugten Gesicht der Altstadt Neapels ist Chiaia wie ein Lächeln, das selbst die hässliche Eiterbeule der Stadt überspielt: „Natürlich gibt es auch hier die Camorra, schließlich sind wir in Neapel. Nur ist sie nicht so auffällig“, sagt Marta Campanelli, die vor zwei Jahren nach Chiaia gezogen ist. Allerdings: In Chiaia ist die Camorra nicht Händler, sondern Kunde – und zwar ein guter. Besonders an den Wochenenden bilden sich vor Prada oder Gucci regelrechte Warteschlangen von Menschen, deren Hemden zu eng sind oder deren Make-up zu dick aufgetragen ist; die laut und Kaugummi schmatzend ihre Wichtigkeit in neapolitanischem Dialekt herausposaunen. Kurz, Menschen die eigentlich zu vulgär sind für den Chic Chiaias, doch deren zusammengerollte Geldbündel, dick wie Coladosen, jede Tür öffnen. Was die Camorristi im Rest Neapels durch Drogen, Erpressung oder Menschenhandel einnehmen, geben sie rund um die Piazza dei Martiri wieder aus.
Wie auf einem Podest thront die Terrasse des Edelcafés Grand Caffé La Cimmino über der Piazza Giulio Rodino. Die sonnenverbrannten Gesichter der Touristen strecken sich ihr teils amüsiert, teils neidisch entgegen. Die junge Generation lässt sich gern bewundern, während sie unbeschwert mit Prada-Handys spielt und muskulöse Kellner das Tablett auf dem Zeigefinger rotieren lassen. Jede Geste ist eine kleine Show in dieser Welt.
Doch Chiaia ist nicht nur nach außen Postkartenkulisse, sondern auch ein beschauliches Dorf. Samt Gemeinschaftsgefühl. Ungewöhnlich für Neapel. „Das Leben in dieser Stadt ist hart“, erzählt Marta Campanelli. „Jeder kämpft für sich, gerade in der Altstadt“, meint die 32-jährige Psychologin. Zu groß die Armut, zu rar die Arbeitsplätze. „Zwar sind wir Neapolitaner offen und freundlich, gerade zu Touristen, aber immer auch mit dem Hintergedanken, Vorteile aus jeder Situation zu ziehen.“ Chiaia sei die Ausnahme: „Wir helfen uns, es gibt Vertrauen, manchmal sogar Großzügigkeit. In dem Karton meiner neuen Schuhe sind auch wirklich meine neuen Schuhe und kein umwickelter Ziegelstein. Und meine Satellitenanlage läuft über den Anschluss meines Nachbarn, ohne dass er dafür Geld verlangt …“
Gegen Abend bereitet sich diese wundersame Welt schließlich auf den letzten Akt vor: Nightlife. In Chiaia reiht sich ein Tresen an den nächsten, kleine Restaurants und Cafés sind allgegenwärtig. Erst gegen fünf, sechs Uhr morgens heulen die Vespas für die Heimfahrt auf. Auf vielen der je nach Geschlecht rosa oder dunkelblauen Helme prangt die hier einzig mögliche Aufschrift: Hollywood.
Näheres zu Neapel beim Fremdenverkehrsamt, Telefon: 069 / 23 74 34
Patrick Witte