Medizin: Das ist die Pest
Wissenschaftler wollen verstehen, was die großen Seuchen der europäischen Geschichte verursacht hat. Dafür suchen sie in Massengräbern nach dem Erbgut uralter Erreger.
Die Pest erreichte Konstantinopel im Frühling des Jahres 542. Sie kam mit den Schiffen aus Ägypten und traf die Hauptstadt des byzantinischen Reiches mit tödlicher Wucht. Selbst der Geschichtsschreiber Prokop, sonst ein penibler Chronist, kann das Ausmaß der Seuche kaum fassen: „Anfangs lag die Zahl der Sterbefälle nur wenig über dem gewohnten Maß, dann aber nahm das Unheil weiter zu, bis die Todesopfer täglich etwa fünftausend und schließlich zehntausend und mehr erreichten.“ Das große Sterben breitete sich im Mittelmeerraum und dem gesamten Orient aus.
„Die Justinianische Pest im 6. Jahrhundert ist zweifellos die schlimmste Katastrophe des frühen Mittelalters“, sagt Karl-Heinz Leven, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Nürnberg-Erlangen. Leven ist Spezialist für die Geschichte von Infektionskrankheiten. Er hat eine Vielzahl historischer Quellen ausgewertet, in denen die Justinianische Pest beschrieben wird. Sie zeichnen ein plastisches Bild der Krankheit. Die überlieferten Schilderungen der Symptome, etwa Beulen in der Leistenbeuge und unter den Achseln, Fieber, schwarze Flecken und der Tod innerhalb weniger Tage, das seien Hinweise auf eine Krankheit, die wir heute Beulenpest nennen würden, sagt der Forscher. Kaiser Justinian erklärte die Pest im März 544 offiziell für beendet. Doch die Seuche flackerte in den folgenden 200 Jahren immer wieder auf. Dann geriet sie nahezu in Vergessenheit. Erst mit dem Schwarzen Tod im 14. Jahrhundert sollte die nächste Pestkatastrophe über Europa hereinbrechen.
Doch wurden die beiden Krankheiten wirklich durch denselben Erreger ausgelöst? Bis heute rätseln Historiker, Epidemiologen und Mikrobiologen über die tatsächliche Ursache der großen Pestwellen der vergangenen zweitausend Jahre. Früher hatten die Ärzte giftige Dämpfe, sogenannte Miasmen, im Verdacht. Erst im Jahr 1894 konnte der Schweizer Arzt Alexandre Yersin in China ein stäbchenförmiges Bakterium als den Erreger der Beulenpest dingfest machen – Yersinia pestis. Sind Ahnen dieses Pestbakteriums auch die Auslöser der Justinianischen Pest und des Schwarzen Todes gewesen?
Mithilfe der modernen Molekularbiologie kommen Paläogenetiker und Evolutionsbiologen den Übeltätern von einst nun auf die Spur. Als Zeitzeugen dienen uralte Überreste vom Erbgut der Krankheitserreger, die die Forscher aus Pest-Skeletten isolieren. So verheerend die Beulenpest für ihre Opfer war, für die Arbeit der Paläogenetiker erweist sie sich heute als dankbares Studienobjekt. Es existieren gut datierte mittelalterliche Friedhöfe und Massengräber. Auch der Krankheitsverlauf hat Spuren hinterlassen: Die Erreger verursachten eine Blutvergiftung und breiteten sich rasch im ganzen Körper aus. Im eingetrockneten Blut in den Zähnen haben deshalb oftmals auch DNA-Bruchstücke der Erreger dieZeit überdauert.
Die Analyse alter Erbinformation von Bakterien galt jedoch lange als äußerst knifflig und heikel. Zu anfällig waren die Proben für Verunreinigungen, zu schnell entstanden im Labor technische Artefakte. Doch moderne molekularbiologische Verfahren und neue Sequenziertechniken haben die Genomforschung in den vergangenen Jahren revolutioniert. Sie erlauben es, auch noch die winzigsten Spuren von Erbmaterial aufzuspüren und sie rasch und zuverlässig zu entziffern.
Die neuen Möglichkeiten haben ein neues Forschungsfeld entstehen lassen, in dem Forscher das genetische Profil von Krankheitserregern der Vergangenheit ermitteln und sie sogar zum Leben erwecken. So wollen sie herausfinden, wie die Keime einst zu aggressiven Killern werden konnten. Dem US-Forscher Jeffery Taubenberger gelang es vor acht Jahren, aus Gewebeproben einer 1918 begrabenen Grippetoten das Genom der Spanischen Influenza zu rekonstruieren. Andere Forscher bauten das historische Virus daraufhin im Labor nach und infizierten Mäuse damit. Virologen haben auf diese Weise etwas über den Ursprung und die Schlagkraft des Grippe-Erregers von 1918 gelernt. Das Virus wurde zum Auslöser einer Pandemie, die bis zu 50 Millionen Menschen dahinraffte. Die Erkenntnisse aus der DNA von damals sollen Medizinern heute helfen, sich vor neuen Grippewellen besser zu wappnen.
Auch Johannes Krause ist ein Spezialist für die Analyse alter DNA. Vor wenigen Jahren war der Tübinger Paläogenetiker an der Entzifferung des Neandertaler-Genoms beteiligt – nun hat er sich vorgenommen, den Erregern der großen Pestkatastrophen auf die Spur zu kommen. „Es geht uns darum, der Geschichte der Seuchen ein wenig mehr Empirie zu verleihen“, sagt Krause. „Wir wollen insbesondere klären, wie sich die Erreger im Verlauf ihrer Evolution verändert und sich an den Menschen angepasst haben.“ Der Blick zurück auf die Erregergeschichte könne zudem genutzt werden, um die zukünftige Entwicklung von Krankheitserregern besser einzuschätzen.
Für den Schwarzen Tod des Spätmittelalters ist ihm das bereits gelungen. Zusammen mit kanadischen Kollegen hatte Krause vor zwei Jahren vier Skelette aus dem Londoner Friedhof East Smithfield untersucht, der im Jahr 1348 als Massengrab diente. Aus den Zähnen schafften es die Forscher, Erbgutschnipsel von Pestbakterien zu isolieren und sie zu entziffern. Anhand von charakteristischen Schäden an den Erbmolekülen wiesen die Forscher zudem nach, dass die alte DNA in ihren Proben auch wirklich „authentisch“ ist. Nach weiterer digitaler Puzzlearbeit veröffentlichten sie im Fachjournal „Nature“ das rekonstruierte Genom des mittelalterlichen Pestbakteriums. Die Rolle von Yersinia pestis als Mitverursacher des Schwarzen Todes gilt seither als gesichert.
„Die alten Pestgenome sind für uns molekulare Fossilien, die wir dem Stammbaum des Krankheitserregers hinzufügen können“, sagt Krause. Die Jagd nach weiteren molekularen Fossilien ist bereits im vollen Gange. Nun will Krause klären, ob eine spätantike Form von Yersinia pestis auch die Justinianische Pest verursacht hat. Mehrere hundert Skelette aus dem 6. und 7. Jahrhundert habe er in den vergangenen Jahren zusammengetragen. „Bisher ist es uns aber nicht gelungen, daraus Erreger-DNA zu isolieren“, sagt Krause. Nicht nur der Zahn der Zeit hat dem Erbmaterial offenbar stärker zugesetzt als den spätmittelalterlichen Pestproben aus London. Auch das Mittelmeerklima hat den Abbau der Mikroben-DNA beschleunigt.
Französische Forscher behaupten bereits seit mehreren Jahren, in Skeletten aus dem 6. Jahrhundert Pest-DNA aufgespürt zu haben. Doch viele Genetiker zweifeln diese Daten inzwischen an, es besteht der Verdacht, dass es sich um Kontaminationen handeln könnte. „Sie wollen einen Pestbakterientyp isoliert haben, der nach unseren Erkenntnissen erst seit etwa 300 Jahren existiert“, sagt der Mikrobiologe Mark Achtman von der Universität Cork in Irland.
Achtman, der viele Jahre am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin geforscht hat, beschäftigt sich seit langem mit der Evolution der Beulenpest. Mit seinen Mitarbeitern hat er auf der ganzen Welt eine große Zahl heute existierender Stämme von Yersinia pestis aus Nagetieren und Patienten gesammelt und ihre Erbinformation analysiert.
Aus den Veränderungen des DNA-Codes, die die Mikroben im Verlauf der Zeit angehäuft haben, lässt sich einiges über die Geschichte ihrer Vorfahren herauslesen. Mit Genomanalysen zu mehr als 130 modernen Peststämmen hat Achtman mit chinesischen Kollegen kürzlich im Fachjournal „PNAS“ die bisher umfassendste Ahnentafel des Pestbakteriums vorgestellt. „Wir können mithilfe der Genominformationen die historischen Ausbreitungswellen des Pesterregers rekonstruieren“, sagt Achtman. Demnach hatten sämtliche großen Pestpandemien ihren Ursprung in Zentralasien. Von dort bahnten sich die Erreger über wichtige Handelsrouten wie die Seidenstraße ihren Weg in die Welt. Die Pestwelle im Spätmittelalter hat zudem eine Explosion der genetischen Vielfalt ausgelöst, hier fächert der Stammbaum besonders stark auf. Die Genomdaten der Pest von 1348 haben den Evolutionsforschern dabei geholfen, die molekulare Uhr für ihren genetischen Stammbaum zu eichen. So lassen sich die Ausbreitungswellen wesentlich genauer als bisher datieren.
Die molekulare Ahnenforschung hat so auch interessante Neuigkeiten zur Justinianischen Pest ans Licht gebracht. In dem rekonstruierten Stammbaum zweigt ein Ast von Bakterienstämmen zu einem Zeitraum ab, der mit dem Ausbruch der Epidemie um 541 überlappt. „Das zeigt, dass Vorfahren des Pesterregers zur Zeit der Justinianischen Pandemie existiert haben“, schreiben die Forscher in ihrem Fachartikel. Auch Paläogenetiker Krause ist bei eigenen phylogenetischen Analysen zu einem ähnlichen Schluss gekommen. „Unsere Berechnungen deuten darauf hin, dass es zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert höchstwahrscheinlich zu einem Beulenpestausbruch kam.“
Doch die Forscher sind sich darüber im Klaren, dass nur der DNA-Beweis das Rätsel über den Keim der Justinianischen Pestilenz lösen wird. „Solange wir keine authentischen DNA-Sequenzen haben, müssen wir vorsichtig mit unseren Aussagen sein“, sagt Krause. Und auch Achtman betont: „Wir haben hier viel gut begründete Spekulation, aber keine Gewissheit, dass die Justinianische Pest eine Seuche war, die durch Yersinia pestis ausgelöst wurde.“
Seuchenhistoriker Leven beobachtet die Erkenntnisse der Naturwissenschaftler mit Interesse: „Diese Befunde können das Bild von der Justinianischen Pest ergänzen, aber die Geschichte der Krankheit nicht neu schreiben“, sagt Leven. „Es muss immer klar sein, dass die rückschauende Diagnose der Molekularmediziner keine historische Sichtweise ist.“ Manche Mikrobiologen seien indes versucht, aus historischen Quellen etwas herauszulesen, das Lücken ihrer Laborbefunde ergänzen könne. „Sie suchen etwa nach Beschreibungen von Ratten und Flöhen in den Quellen – allerdings vergeblich.“ Denn die Rolle der Nager und der Blutsauger bei der Pestansteckung ist erst seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Leven: „Man kommt da zu einem schiefen, anachronistischen Bild.“ Dass sich aber auch die Paläogenetiker auf den Spuren der großen Pestwellen nicht immer einig sind, sei für Historiker wiederum ein interessantes Phänomen: „Mit Streitigkeiten haben wir es in der Erforschung der großen Seuchen häufig zu tun.“
Die Pest wird in der Regel durch Flohbisse übertragen. Drei Mal zog die Seuche durch Europa und tötete Millionen.
Die alte Erbsubstanz der Pesterreger ist auch heute noch in jahrhundertealten Skeletten nachweisbar. Mit neuen Labormethoden lassen sich selbst winzige Bruchstücke entziffern. Daraus können Forscher das komplette Genom rekonstruieren.
Der Vergleich vom Erbgut historischer und heutiger Erreger kann nicht nur belegen, ob es sich um die gleiche Krankheit
handelte. Wissenschaftler hoffen auch zu verstehen, wie sich das Bakterium entwickelt und ausgebreitet hat.
Philipp Graf
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