zum Hauptinhalt
Hohe Berufsschule. Die zwei- bis dreijährigen beruflichen Colleges in Kanada haben Vermittlungsquoten von gut 90 Prozent in den Arbeitsmarkt. Viele Uniabsolventen satteln einen Intensivkurs am College auf, um ihre Jobchancen zu verbessern.
© Luisa Hommerich

Kanadische Colleges: halb Berufsschule, halb FH: Das Handwerk hat akademischen Boden

Kanada bildet seine Praktiker am College aus – mit so großem Erfolg, dass auch Uniabsolventen kommen.

Im Land mit einer der höchsten Akademikerquoten der Welt steht Paul Brennan vor einer Kanada-Karte mit 150 kleinen roten Punkten und sagt: „Wer braucht heute noch einen Uni-Abschluss? Das hier ist die Zukunft.“ Die Punkte stehen für die „Community Colleges“ des Landes. Paul Brennan glaubt an sie, denn er ist Vizepräsident von „Colleges & Institutes Canada“, dem Verbund, der in Kanada die berufliche Bildung koordiniert.

Höhere Abschlüsse im hohen Norden

Fast jeder zweite Kanadier hat einen höheren Abschluss – dafür ist das Land bekannt. Das, was manche in Deutschland als „Akademikerschwemme“ kritisieren, gilt für die Kanadier als Erfolgsrezept. Dennoch stehen Kanada und Deutschland vor einer ähnlichen Herausforderung. Die Wirtschaft fürchtet den Fachkräftemangel im Handwerk. In Deutschland bleiben zehntausende Ausbildungsplätze unbesetzt, obwohl gleichzeitig viele Bewerber leer ausgehen. In Kanada hatte 2014 ein Drittel der kleinen und mittelständischen Unternehmen Probleme, Stellen zu besetzen, die eine berufliche Ausbildung voraussetzen, wie die Umfrage eines Arbeitgeberverbandes ergab.

Und doch haben Deutschland und Kanada unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie Fachkräfte künftig ausgebildet werden. Kanada setzt auf die Community Colleges – wo Handwerker sozusagen auf akademischen Boden lernen.

Alles andere als zweitklassig

Im „Seneca College“, dem größten des Landes mit allein neun Standorten in Toronto, zeigt sich, was in Kanada anders ist. Insgesamt 100.000 Schüler lernen dort in schuleigenen Werkstätten und Laboren sowie in Betriebs-Praktika oder auch in vereinzelten dualen Programmen von Unternehmen. In ganz Kanada verlassen jedes Jahr 200.000 Schüler die Colleges als Schreiner, Friseure, Techniker, aber auch als Piloten, Modedesigner und Marketing-Spezialisten. Mit den US-amerikanischen Community Colleges, die oft als zweitklassige Universitäten gesehen werden, haben sie wenig gemein. Sie ähneln eher Mischungen aus Berufs- und Fachhochschulen, vereinzelt bieten sie auch Bachelor-Abschlüsse an.

Stippvisite in einem Standort des Seneca College in Toronto: Schüler in Laborkitteln gehen über die Gänge, im Keller zertrümmern angehende Straßenbauer Asphalt. Im Dachgeschoss sitzt die Computeranimations-Klasse im Halbdunkeln vor riesigen Bildschirmen, programmiert mit zusammengekniffenen Augen dreidimensionale Schildkröten.

Engagement schon vor dem Abschluss

Die Nachfrage nach Seneca-Schülern sei groß, sagt Paul Brennan. „In einigen Sparten beknien wir die Unternehmen, die Schüler nicht aus den laufenden Kursen heraus einzustellen, sondern bis zur Graduation zu warten.“ Der Arbeitsmarkt habe sich verändert. In der wachsenden Tourismusbranche und in Digitalberufen forderten Arbeitgeber praktisches Können statt akademischer Vergeistigung. Aber die Universität ziehe mit ihrem guten Prestige immer noch zu viele an, für die ein Studium gar nicht die beste Wahl sei. Die Zahlen der Studierenden steigen schneller als die der College-Schüler. „Wir müssen die Colleges deswegen so attraktiv wie möglich machen“, sagt Brennan. Mit Praxislernen, Freizeitangeboten, neuster Ausstattung und Karriereberatung sollen sie Unis Konkurrenz machen.

Auf ihren oft riesigen Campus gibt es mittlerweile Kinderbetreuung und Restaurants, Kletterwände und Musikstudios. Am Seneca College schlurfen Schüler nach Unterrichtsschluss in Badeschlappen in den College eigenen Wellnessbereich. Und im Montrealer „Edouard Montpetit“-Cégep – so heißt die Variante der Colleges in Québec – schrauben zukünftige Luftfahrzeugtechniker an 35 schuleigenen Flugzeugen und Helikoptern.

Bezahlbare Studiengebühren

Das alles finanzieren die Schüler auch mit ihren Gebühren. Nur etwa die Hälfte der Kosten für einen Platz übernimmt die jeweilige Provinzregierung, lediglich in Québéc gibt es mehr Unterstützung. Immerhin zahlen College-Schüler weniger als Studierende, die ein Bachelor jährlich etwa 6000 kanadische Dollar kostet. Die Gebühren der College-Kurse variieren stark, die meisten belaufen sich auf 2000 bis 4000 kanadische Dollar (umgerechnet etwa 1300 bis 2600 Euro) pro Jahr.

Standortwechsel nach Winnipeg. Schilder auf staubigen Schachbrettmuster-Straßen preisen das „Red River College“ an: „Unsere Absolventen werden eingestellt!“ 95 Prozent der Red-River-Absolventen finden binnen sechs Monaten einen Job. Landesweit sind es 91 Prozent. Ihre Chefs sind Menschen wie Peter George, der selbst Grafikdesign am Red River College gelernt hat und danach Manager einer Werbeagentur geworden ist. Jetzt sitzt er in seinem alten Ausbildungsort. Nur vier Master-Absolventen habe er angestellt, aber 20 Grafikdesigner frisch vom Red River College. „Ich brauche ein Jahr, um Uni-Absolventen auf das Niveau der College-Abgänger zu bringen.“

Nach der uni erstmal ans College

Was aber, wenn die praktische Spezialisierung der College-Absolventen ihnen später Aufstieg und Neuorientierung erschwert? Selbst Paul Brennan wägt ab. Es gehe nicht darum, die Studierendenzahlen massiv zu senken, sondern darum, möglichst vielen einen möglichst guten Schulabschluss zu verschaffen. Zumal Studierte in allen Bereichen mittlerweile wieder besser da stehen als in der Krise nach 2008. Deutlich mehr verdient haben sie im Schnitt ohnehin schon immer.

Viele junge Kanadier versuchen nun, die Vorteile von Uni und College miteinander zu verbinden. Immer öfter kehren sie nach dem Studium zurück ans College, schulen um, machen einjährige Intensivkurse. Beide Abschlüsse zu haben, erhöht die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das Durchschnittsalter an den Colleges liegt bei 27 Jahren, ein Fünftel hat bereits einen akademischen Abschluss. Auch andersherum sind die Übergänge fließend: Wer nach dem College an der Uni weitermachen will, bekommt bis zu zwei Jahre auf den Bachelor angerechnet.

Das deutsche Original kann von der kanadischen Kopie lernen

„Das ist eines der Dinge, die Deutschland definitiv von Kanada lernen kann: Flexibilität“, glaubt Paul Brennan. Kanada selbst hat sich viel von Deutschland abgeguckt. Dass Unternehmensvertreter seit den 1990er Jahren über die Stundenpläne mitbestimmen, war inspiriert vom dualen System. Aber wie kann die deutsche Ausbildung die Schwachen besser fördern und attraktiver werden? Kanada könnte Impulse geben. Für jeden College-Kurs gibt es genau darauf zugeschnittene Vorbereitungsprogramme, die Bewerber wenn nötig auf das geforderte Niveau heben. Wer schon im Kurs ist, kann oft kostenlose Nachhilfe nehmen. Karriereberater helfen in allen Fächern beim Kontakteknüpfen mit Unternehmen.

Anders als in Deutschland haben die Firmen allerdings kaum Verpflichtungen, geschweige denn Kosten bei der Ausbildung. „Es ist schwierig, die Unternehmen hier zu mehr Engagement zu verpflichten“, sagt Melida Renkwitz, Managerin für Internationalen Austausch am Centennial College in Toronto.

So werden Grenzen des kanadischen Systems sichtbar. Die College-Gebühren steigen jährlich, die staatliche Finanzierung sinkt. In vielen Kursen sind die Plätze knapp.

Zur Startseite