Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer: Das andere Gesicht des Islam
Sie zeichnet ein differenziertes Bild von der Lebenswirklichkeit der Muslime. FU-Professorin Gudrun Krämer wurde dafür mit einem Forschungspreis ausgezeichnet. Wie andere Islamwissenschaftler sieht aber auch sie sich einer Kampagne ausgesetzt.
Vor dem Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität Berlin drängeln sich die Studenten, rauchen, reden, trinken Kaffee. Jeans und Parka, langer Rock, Rastazöpfe oder Kopftuch – hier studiert eine bunte Truppe Geschichte, Kultur und Religion der Muslime, lernt Türkisch, Arabisch oder das alte Osmanisch. Im zweiten Stock sitzt Institutschefin Gudrun Krämer in einem wuchtigen FU-blauen Sessel und freut sich über den Andrang. Seitdem sie 1996 von der Universität Bonn an die FU kam, hat sich vieles geändert für das einstige Orchideenfach – und damit auch für Krämer.
Nach dem 11. September 2001, als islamistische Attentäter die USA attackierten und fast 3000 Menschen in den Tod rissen, gibt es weltweit einen enormen Aufklärungsbedarf über den Islam, über muslimische Gesellschaften. Gudrun Krämer wurde zur öffentlichen „Islamversteherin“, die der schwelenden Konfliktlage in zahlreichen Zeitungs-, Radio- und Fernsehinterviews ein differenziertes Bild von der Lebenswirklichkeit und den Wertvorstellungen der Muslime entgegenhält.
Kürzlich wurde die 57-Jährige studierte Historikerin, Politologin und Anglistin dafür mit dem mit 100 000 Euro dotierten Forschungspreis der Gerda-Henkel-Stiftung ausgezeichnet. Ihr Forschungsgebiet untersuche sie „kritisch, aber mit sichtbarer Zuneigung“, heißt es in der Begründung der Jury unter dem Vorsitz des ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Wolfgang Frühwald.
Die Diskussion um Themen wie Islam und Gewalt oder Muslime und Menschenrechte geht auch quer durch die Seminare an Krämers Institut. Ein Teil der Studierenden ist abgestoßen von der „plumpen öffentlichen Debatte über den Islam“, wie Krämer sagt. Deren aufklärerischem Eifer fühlt sie sich besonders nahe. Doch es studieren auch solche, die „Kopftuchfrauen“ vom Schleier befreien wollen oder „Importbräute“ aus der Zwangsheirat. Doch das sei zu schlicht gedacht, erfahren sie bald, es gebe nicht „den Islam“ und „die Muslime“. Pauschale Kritik stehe dem notwendigen interreligiösen und interkulturellen Dialog entgegen.
Krämer selbst kam einst von der Begeisterung für das alte Ägypten zur Islamwissenschaft. Als Schülerin in Stuttgart lernt sie an der Volkshochschule Arabisch und modernes Hebräisch. Hin und her gerissen zwischen der Begeisterung für Geschichte und dem Drang, „etwas Soziales“ machen zu wollen, beginnt sie an der Universität Heidelberg ein Studium der Geschichte und Semitistik, wechselt dann zum Lehramtsstudium, um schließlich an der Universität Hamburg bei einem Islamwissenschaftler zu promovieren. Die Dissertation über die jüdische Minderheit in Ägypten (1982), die Habilitation über „Gottes Staat als Republik“ (1993), später die „Geschichte Palästinas“ (2002) und die „Geschichte des Islam“ (2005): Krämer arbeitet sich an großen, historisch und politisch relevanten Stoffen ab.
Ein brisantes Thema hat sich Krämer für ihr kürzlich erschienenes Buch gewählt, eine englischsprachige Biografie Hasan al-Bannas, des Gründers der ägyptischen Muslimbruderschaft. Die 1928 von al-Banna geschaffene Vereinigung lehnt heute zwar Gewalt als Mittel der Politik grundsätzlich ab, billigt sie aber im Kampf gegen „Besatzer“. Vor allem Selbstmordattentate in Israel werden so gerechtfertigt. Hierzulande wird die bruderschaftsnahe „Islamische Gemeinschaft in Deutschland“ vom Verfassungsschutz beobachtet. Doch Gudrun Krämer beschreibt Hasan al-Banna in erster Linie als „Symbolfigur des modernen Islamismus“, als Reformer, der die muslimischen Massen in Ägypten durch moralische Erneuerung in den Aufstand gegen die britische Kolonialmacht führen wollte.
Für Krämer ist al-Banna ein Musterbeispiel für das, was die Wissenschaft heute so gerne als „Entanglement“ beschreibt. Sie ist fasziniert von der Verwobenheit islamischer Werte, die aus dem Koran und der Sunna, den überlieferten Handlungen und Aussprüchen des Propheten Mohammed, abgeleitet werden, mit Gedankengut, das aus Europa und den USA übernommen wird. Obwohl „der Westen“ bis heute von Islamisten verdammt wird, haben sie seit dem 19. Jahrhundert Ideen wie die der Selbsthilfe oder des Zeitmanagements aufgegriffen. Die Reformer begründen ihre Nähe zu Managementmethoden und moderner Wissenschaft zwar aus ihrer religiösen Tradition. Doch Krämer will ihre Entanglement-These mit einem neuen Forschungsprojekt zu islamischen Reformbewegungen untermauern.
Und wie steht Krämer zur Gewaltfrage? Al-Banna sei „verbal radikal, aber in der Praxis vorsichtig“ gewesen. Seinen Aufruf zum Widerstand gegen die britischen Besatzer im Kontext des Kolonialismus zu sehen, hieße keinesfalls, Attentate zu rechtfertigen, betont sie. Eine Gratwanderung, die Krämer in jüngster Zeit ins Visier von Islamkritikern gebracht hat. Wie andere Islamwissenschaftler sieht sie sich einer Kampagne ausgesetzt. „Campus Watch“, eine Initiative des konservativen US-amerikanischen Middle East Forum, die angeblich israelfeindliche oder antisemitische Äußerungen in Vorträgen und Vorlesungen in Blogs anprangert, ist auch in Deutschland angekommen. Sie lasse sich aber nicht das Recht absprechen, sich etwa mit der Wirkung einflussreicher Imame zu beschäftigen, „ohne immer als Erstes zu sagen, der ist aber israelfeindlich“, sagt Krämer.
„Man könnte immer nur reagieren.“ Kurz scheint es Gudrun Krämer doch leid zu sein, sich und ihren Forschungsansatz immer wieder verteidigen oder Thesen wie denen von Thilo Sarrazin entgegentreten zu müssen. Doch dann erzählt sie von einer Verteidigungsstrategie, an der sie mit ihren Studierenden und Doktoranden aus der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“ arbeitet. Denkbar sei eine Website, auf der allgemeinverständlich über den Islam und die islamische Welt aufgeklärt wird. Hilfreich wäre auch eine Liste mit Argumenten, die man Islamkritikern entgegenhalten kann, sei es beim eskalierenden Smalltalk auf einer Party – oder bei einer Podiumsdiskussion.
Etwa in der Kopftuchfrage. „Ich weiß, dass der Schleier ein Repressionsinstrument sein kann“, sagt Krämer. Aber man könne doch nicht einer Muslima, die den Schleier selbst als symbolischen Ausdruck ihrer Religiosität gewählt hat, sagen, „ich weiß es aber besser“. Als sie 2009 mit Studierenden zu Gast an der Universität Sanaa ist, entsetzt sie allerdings der „Hardcore-Islamismus unter der jungen Generation“ im Jemen. Studentinnen, deren Väter sie an die Uni schickten, werden von ihren Brüdern unter Druck gesetzt, diese wieder zu verlassen. Doch die jungen Frauen wehren sich, berichtet Krämer. Der islamische Feminismus, den sie gemeinsam mit einer jüngeren Kollegin von der Humboldt-Universität in einem Forschungsprojekt für Südasien untersucht, gibt ihr Hoffnung auf einen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel.
Die Erwartung jedoch, der Islam müsse unverzüglich die seit Jahrhunderten verpasste Aufklärung nachholen, hält Krämer für überzogen. „Ich bin eine überzeugte Aufklärerin und prinzipiell für eine historisch-kritische Lektüre des Koran“, sagt sie, „aber ich finde es lebensfremd, den hier lebenden Muslimen ständig einen Katalog von Forderungen vorzuhalten.“ Pragmatischer sei es, auf die Anerkennung des Grundgesetzes zu pochen – und das heiße selbstverständlich, sich von Ehrenmorden und Zwangsverheiratungen zu distanzieren.
Auch die Imamausbildung an deutschen Unis, die von der Bundesregierung gefördert wird, soll zur Herausbildung eines modernen europäischen Islam beitragen. Die Integration der islamischen Theologie werde die kritische Selbstreflexion stärken und einen rationalen Umgang mit überlieferten Texten fördern, so die Erwartung des Wissenschaftsrats. Wie fast alle ihre Fachkollegen befürwortet Krämer diesen Ansatz, warnt aber davor, die Eigenständigkeit der Islamwissenschaft als kritische Wissenschaft infrage zu stellen. Sparzwänge könnten dazu führen, dass von den Islamwissenschaften genommen wird, um den „Islamischen Studien“ zu geben. Hier sei tatsächlich Wachsamkeit geboten, sagt Krämer mit einem Lachen.