Raumfahrt: Das 100-Milliarden-Dollar-Labor
Nach dem Ende des Kalten Krieges taten sich Ost und West zusammen, das All zu erobern: Sie bauten die Internationale Raumstation. Geblieben ist ein Labor mit unsicherer Zukunft. Von Not und Nutzen des teuersten Bauwerks der Menschheit.
Sie gilt als Symbol der Völkerverständigung, als fliegendes Labor für abgefahrene Experimente unter Extrembedingungen, als teuerstes Bauwerk der Menschheit sowieso. Man kann sie aber auch als die am höchsten gelegene Rumpelkammer bezeichnen. Diesen Eindruck bekommt jedenfalls, wer das Innere der Internationalen Raumstation (ISS) in einer 3-D-Dokumentation anschaut. Laptops, Schläuche und Kabel ragen kreuz und quer in den Raum, überall Schalter, Stecker und Lämpchen, mittendrin hangelt sich die Crew entlang.
Die Astronauten haben es nicht leicht. Erstens ist es in den Gängen und Arbeitsmodulen ziemlich eng, jeder Quadratzentimeter Platz muss genutzt werden, und zweitens herrscht in ihrem Reich Schwerelosigkeit. Diese führt dazu, dass etwa Kabel nicht wie gewohnt am Experimentierschrank nach unten hängen, sondern eben mitten in den Raum ragen.
Das Bild von der extraterrestrischen Tüftlerbude, in der das Personal unaufgeregt in bequemen Alltagsklamotten umherschwebt, ist ein Sinnbild für die gesamte Station. Sie ist im Routinebetrieb angekommen. Und das ist ihr Problem.
Im November 1998 begann der Aufbau, als eine russische Schwerlastrakete das erste Modul namens „Sarja“ in die erdnahe Umlaufbahn brachte. Stück für Stück schafften in den folgenden Jahren russische Raketen und amerikanische Spaceshuttles weitere Teile herbei, die in einer Höhe von rund 350 Kilometern zusammengeschraubt wurden. Dann die Katastrophe: 2003 stürzte der Shuttle „Columbia“ ab, das Vorhaben stand auf der Kippe. Nun erst recht, sagten die ISS-Partner: die Raumfahrtagenturen der USA, Russlands, Japans, Kanadas und die europäische Esa.
Zweieinhalb Jahre später flogen die Shuttles wieder, die Station wuchs. Mit den letzten Shuttleflügen bis Juli 2011 war die Station weitgehend fertiggestellt. 430 Tonnen schwer, Platz für sechs Leute, 28 000 Kilometer in der Stunde schnell. Mit etwas Glück ist sie auch von Deutschland aus am Himmel zu sehen.
Ziel erreicht, nicht mehr spannend. Dieser Gedankengang macht den ISS-Verantwortlichen Angst. Denn er könnte nicht nur weite Teile der Bevölkerung erfassen, sondern auch Politiker, die das knappe Forschungsgeld künftig anderen Großprojekten geben. Das ist gerade in Europa ein Problem. Die Esa hat zugesagt, sich bis 2020 an der Station zu beteiligen. Offen ist allerdings, wie sie ihren Anteil nach 2015 finanzieren will und vor allem in welcher Höhe. Das ist entscheidend, denn je größer ihr Beitrag ist, desto mehr Experimente kann die Esa im fliegenden Labor machen. „Von deutscher Seite aus wollen wir eine volle Nutzung der Station bis mindestens 2020“, sagt Volker Schmid vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und dort zuständig für die bemannte Raumfahrt einschließlich ISS. 40 Prozent der europäischen Investitionen, bis heute rund 2,8 Milliarden Euro, habe Deutschland aufgebracht, sagt er. Es wäre „unlogisch“, diese Forschungsmöglichkeit jetzt nicht voll zu nutzen. „Frankreich und Italien zeigen sich bisher wenig solidarisch, und es gibt dort Tendenzen, sich aus dem ISS-Programm zurückzuziehen.“
Das Problem: Der Aufbau des menschlichen Außenpostens im All wurde von Millionen Menschen gebannt verfolgt, aber die kleinen Forschungserfolge auf der Raumstation lassen sich schwerer vermitteln. Zum einen macht ein Astronaut schon optisch beim Außeneinsatz mehr her als beim Einschalten eines Experiments. Zum anderen kommen die meisten Experimente aus der Grundlagenforschung, die es immer ein bisschen schwer hat – sofern sie nicht gerade ein pathetisch aufgeladenes „Gottesteilchen“ jagt. Hinzu kommt, dass die Arbeit auf der ISS nicht auf ein Thema fokussiert, sondern einen Bogen spannt von der Astroteilchenphysik über die Materialwissenschaften, die Ingenieurtechnik und Biologie bis hin zur Medizin. Jedes Experiment für sich ist auf seine Weise spannend, wirkt allein genommen aber doch recht verloren, wenn damit der Nutzen der 100 Milliarden Dollar teuren Konstruktion (Stand 2011) erläutert werden soll.
„Man muss sich klarmachen: Die ISS ist nicht wegen der Wissenschaft gebaut worden“, sagt Robert Guntlin, Geschäftsführer des Access-Instituts in Aachen, das zahlreiche materialwissenschaftliche Versuche auf der Station laufen hat. „Sie war ein politisches Statement zum Ende des Kalten Krieges, man wollte eine friedliche Zusammenarbeit demonstrieren.“ Das sei gelungen, findet er. „Darüber hinaus ist eine Forschungsplattform entstanden, die wir sehr gerne nutzen.“
Access entwickelt unter anderem Triebwerksschaufeln. Sie sollen extrem stabil sein, selbst bei Temperaturen über 800 Grad Celsius, und sehr leicht, um das Gewicht und somit den Kerosinverbrauch der Flieger zu senken. Die Forscher setzen auf Titanaluminid, doch das hat seine Tücken. Es bildet beim Erstarren teilweise stengelförmige Riesenkristalle. Die Ingenieure wollen aber viele kleine, kompakte Kristalle haben, da sie eine Struktur bilden, die gleichmäßige Eigenschaften hat und beispielsweise bruchfester ist. Darum versuchen die Forscher, die Fertigung so weit zu optimieren, dass der Anteil stengeliger Kristalle gering ist und diese nur außen am Bauteil sitzen, wo man sie leicht wegfräsen kann. Guntlin: „Wie die Erstarrung genau abläuft, das lässt sich im Vorfeld modellieren, aber dafür muss man zunächst ein grundlegendes Verständnis für das Wachstum der Kristalle aus der Schmelze haben.“ Die dafür benötigten Basisdaten wie Viskosität und Abkühlgeschwindigkeit werden am besten in der Schwerelosigkeit erhoben. Die Erdanziehung würde stören, weil sie die etwas dichteren Teile einer Schmelze und darin wachsende Kristalle nach unten zieht – und schon ist die Messung verfälscht.
Für das „Geoflow“-Experiment von Christoph Egbers und seinen Kollegen dürfte sich die Industrie kaum interessieren, Geoforscher aber faszinieren sie. Die Wissenschaftler simulieren mit einem etwa grapefruitgroßen, rotierenden Kugelmodell, wie heißes Material im Erdmantel strömt. „Solche Versuche sind auf der Erde nicht möglich, weil hier die Schwerkraft das Material der kleinen Modellerde zu ihrem Südpol zieht – was bei der großen Erde natürlich nicht der Fall ist“, erläutert der Strömungsmechaniker von der TU Cottbus. Darum muss die Minierde in die Schwerelosigkeit.
Um den zähflüssigen Erdmantel zu simulieren, haben die Forscher die Flüssigkeit Nonanol zwischen eine äußere Kugelschale aus Glas (die Erdkruste) und eine innere Kugel (den Erdkern) aus Edelmetall gefüllt. „Die Fließfähigkeit von Nonanol ist temperaturabhängig, so dass wir diese Eigenschaft mithilfe einer kleinen Heizung verändern können“, sagt Egbers. Um Strömungen sichtbar zu machen, werden Laserstrahlen genutzt, die durch die gläserne Hülle bis zum reflektierenden Kern gelangen und von dort zurück in eine Empfängeroptik geworfen werden. „Je nachdem wie stark sich der ,Erdmantel’, also das Nonanol bewegt, werden die Strahlen unterschiedlich abgelenkt“, erläutert er. Diese Abweichungen werden von der Laseroptik erfasst.
Aus den Daten errechnen die Wissenschaftler, wie sich beispielsweise Mantelplumes entwickeln: schlauchförmige Magmaströme, die mehr als 2000 Kilometer tief im Erdmantel beginnen und bis hinauf zur Erdkruste reichen, wo sie etwa die Vulkane Hawaiis speisen. „Derartige Strömungen im Erdmantel kannten Geoforscher auch schon vorher und haben dazu verschiedene Modellrechnungen angestellt“, sagt Egbers. „Unsere Daten helfen, diese Modelle zu verbessern.“
Mehr als 1200 Experimente wurden bisher auf der Station gemacht. Ihr Nutzen steht auch für Kritiker wie Wolfgang Hillebrandt, Direktor am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching, außer Frage. „Man sollte aber auch sehen, zu welchem Preis die Ergebnisse erzielt wurden“, sagt er und verweist auf die hohen Kosten. „Die Befürchtung von mir und einigen Kollegen, dass die ISS ein Fass ohne Boden wird und viele Ressourcen bindet, bewahrheitet sich.“ Das Geld fehle dann für andere Forschungsmissionen, wie etwa den Gravitationswellendetektor „E-Lisa“, dessen Start von der Esa kürzlich um Jahre nach hinten verschoben wurde.
An seiner Einschätzung ändern auch die weiteren Nutzungsmöglichkeiten der Station nichts. Sie kann die Erdbeobachtung unterstützen und beispielsweise bei Ölunfällen oder Überschwemmungen aktuelle Bilder liefern. Andererseits fliegt sie über den dichten Atmosphärenschichten, die bei der Erforschung kosmischer Strahlung stören. Aus diesem Grund wurde vor einem Jahr das „Alpha-Magnet-Spektrometer“ auf der Station montiert. Damit, so hoffen die Forscher, können sie Spuren von Antimaterie und „Dunkler Materie“ finden.
Und für Raumfahrttechniker ist die ISS ein Versuchsgelände, auf dem sie neue Materialien oder Techniken testen können. In zwei Jahren will die US-Firma Ad Astra Rocket Company dort oben einen neuartigen Plasma-Antrieb testen, der Raumflüge womöglich deutlich schneller machen kann, als es mit Raketentechnik möglich ist. Doch all diese Pläne können nur umgesetzt werden, wenn die Station langfristig genutzt wird. Das ist nicht billig. Allein Europa rechnet mit einem Bedarf von 290 Millionen Euro jährlich: für Transportflüge, den Betrieb der Bodenstationen oder die Experimentreihen. 40 Prozent dieses Betrags kommen aus dem deutschen Staatshaushalt.
„Kosten senken“ lautete darum das vordringliche Ziel auf einer ISS-Expertentagung in der vergangenen Woche in Berlin. Eine Möglichkeit wäre, die Station für weitere Länder zu öffnen. Allen voran möchte sich China beteiligen und Raumfahrer zur ISS entsenden, vielleicht sogar mit einem Raumschiff dort festmachen. „Technisch ist das aus meiner Sicht kein Problem“, sagte kürzlich Wang Zhaoyao von der chinesischen Raumfahrtagentur. „Aber es stehen politische Gründe dagegen, die USA wollen das nicht.“
Die Frage ist, wie lange die USA diese Haltung noch aufrechterhalten können. Auch dort ist das Geld knapp. In Asien, vor allem in China, herrschen in Sachen Raumfahrt derzeit Zustände wie in der westlichen Welt in den 60er Jahren: Das Streben nach Prestigegewinn auf diesem Sektor ist sehr ausgeprägt, und es werden große Summen investiert.
„Man muss sich sehr genau überlegen, ob man so einen Partner, der in der bemannten Raumfahrt große Schritte macht und der dabei ist, eine eigene Station aufzubauen, wirklich aus der ISS draußen halten will“, sagt Thomas Reiter, Esa-Direktor für bemannte Raumfahrt. Ginge es nach ihm persönlich, könnte Mitte des Jahrzehnts ein chinesisches Raumschiff an die ISS andocken. Sollte das nichts werden, bleibt noch der Weg in die andere Richtung: Europäer besuchen die chinesische Station, die um 2020 entstehen soll. Auch das hält Reiter für vorstellbar. Einige der neuen Esa-Astronauten bekommen jedenfalls schon Chinesischunterricht.