Geschichte(n) aus 50 Jahren Bafög: „Dankbarkeit kam erst später auf“
Mehr Wünsche als Glückwünsche: Ehemalige Bafög-Empfänger und eine Berliner Beraterin sprechen über ihre Erfahrungen mit der Ausbildungsförderung.
Benannt ist das Bafög nach einem sperrigen Gesetzesnamen, dem Bundesausbildungsförderungsgesetz von 1971. Doch schon bald wurde das Bafög in einem Atemzug mit dem Studium genannt - auch weil anfangs ein großer Anteil von Studierenden damit gefördert wurde (eine kleine Geschichte des Bafögs zum 50. Jubiläum lesen Sie hier).
Was sie persönlich mit dem Bafög erlebt haben, wie es ihnen geholfen oder auch Probleme bereitet hat, berichten hier vier Zeitzeug:innen - in Protokollen, die Amory Burchard aufgezeichnet hat. Thomas Knorr-Siedow war Bafög-Empfänger der ersten Stunde, Saskia Schmidt kommt besser mit einem Stipendium zurecht, Marina Henke ist seit 30 Jahren Bafög-Beraterin im Berliner Studierendenwerk und Historiker Paul Nolte wirft einen sozialgeschichtlichen Blick auf das Bafög.
Thomas Knorr-Siedow (74) forscht über soziale Stadtentwicklung und hat von 1971 bis 1973 in Berlin Bafög erhalten.
1968 bin ich nach zwei Semestern Jura an der FU an die TU gewechselt, um im Hauptfach Soziologie, im Nebenfach Stadt- und Regionalplanung und im zweiten Nebenfach – wieder an der FU – Neuere Geschichte zu studieren. Es ging sehr schnell in Richtung Sozialpolitik und Raumsoziologie und meine drei Fächer hingen damit eng zusammen. Anfangs wohnte ich noch bei meiner Mutter in Charlottenburg, mit ihrem Gehalt im unteren Management der Städtischen Elektrizitätswerke Bewag konnte sie mich „studieren lassen“ und sie war stolz, dass ich als Erster in der Familie an der Uni war.
Als 1971 das Bafög eingeführt wurde, wollte ich dieser fleißigen Frau aber nicht länger auf der Tasche liegen und mit Mitte Zwanzig auch endlich finanziell eigenständig sein. Ich bekam nicht den Höchstsatz, aber immerhin 40 Mark im Monat, und meine Einzimmerwohnung in der Waldemarstraße in Kreuzberg kostete 26 Mark, mit Innenklo. Das war auch damals wenig Geld.
Mir blieb – zusammen mit meinem Semesterferienjob in der Kühlwasserpumpen-Montage bei Daimler Benz – genug, um in meine Lebensqualität zu investieren. Ich hatte schon ein Auto, machte Reisen in ganz Europa, bis nach Istanbul. Mit dem Bafög konnte ich jetzt auch mal ins Restaurant gehen, am liebsten zu „Litfin“ in der Waldemarstraße, wo es die knusprigen Milchhähnchen gab.
Beim Bafögamt abmelden konnte ich mich, als ich einen Hilfswissenschaftler-Job an der TU bekam, zurückgezahlt habe ich einen Anteil mit meiner ersten Stelle als Dozent an der Universität Konstanz – auf einen Schlag.
War ich dem Staat dankbar, dass er auf diese Weise meinen Lebensunterhalt und natürlich auch mein Studium mitfinanziert hatte? Nee, das war die revolutionäre Zeit, das Bafög hat an unserer kritischen Haltung gegenüber dem Staat nichts geändert. Dankbarkeit, zu den ersten Geförderten gehört zu haben, kam erst später auf.
Zum 50. Geburtstag wünsche ich dem Bafög, dass es wieder zu einem Instrument wird, mit dem junge Leute, die ohne staatliche Förderung kein Studium beginnen könnten, Zugang zur Wissenschaft bekommen. Das Bafög soll ihnen keinen stromlinienförmigen Weg in die berufliche Karriere ebenen, sondern sie bei der kritischen Menschwerdung unterstützen.
Saskia Schmidt (24) studiert im 3. Mastersemester Sport und Englisch auf Grundschullehramt an der Universität Hildesheim und hat 2017 Bafög bekommen.
Vor dem Start des Wintersemesters 2016 hatte ich bereits alle Unterlagen beim Bafög-Amt eingereicht. Dazu gehörte auch eine Auskunft über die finanzielle Situation meines Vaters, die er mir verweigerte. Wir haben keinen Kontakt und ihm zu schreiben, war schon sehr belastend für mich.
Und dann hörte ich etliche Monate lang nichts mehr vom Bafög-Amt. Ich lebte unterdessen von sehr wenig Geld, weil meine Mutter mich mit ihrem Einkommen als Reinigungskraft in einem Krankenhaus nicht unterstützen konnte.
Das Bafög habe ich im Januar 2017 endlich erhalten, bekam aber nur 353 Euro, zusammen mit meinem Kindergeld sollte ich von nicht einmal 500 Euro im Monat leben. Ein großes Problem ist meiner Ansicht nach der Umgang mit Kindern von Alleinerziehenden: Die Berechnung ist so kompliziert und undurchsichtig, dass es diese Gruppe extrem benachteiligt. Mit 400 Euro Miete am Studienort blieb mir kaum genug fürs Essen.
Die Organisation Arbeiterkind.de hat mich in dieser Zeit sehr unterstützt und mir geraten, mich mit meinem Engagement in der Kirchengemeinde auf ein Stipendium beim Evangelischen Studienwerk bewerben. Seitdem ich das Stipendium bekomme, ist meine finanzielle Lage deutlich entspannter. Zwar orientieren sich die Studienwerke an den Bafög-Sätzen, aber sie geben einem zusätzlich 300 Euro für Studienkosten.
Beim Bafög müsste sich sehr viel ändern, zuallererst die Wohnkostenpauschale, weil es sich die Geförderten ansonsten nicht leisten können, an den Top-Unis in den großen Städten zu studieren. Außerdem muss es generell elternunabhängig und wie früher als Vollzuschuss gezahlt werden. Für den Staat lohnt es sich doch, in Bildung und in die Fachkräfte von morgen zu investieren, denn die fehlen überall, sei es in den Grund- und Sekundarschulen oder für die Digitalisierung.
Marina Henke (64) ist seit 1991 Bafög-Beraterin beim Studierendenwerk Berlin.
Eine der häufigsten Fragen, die uns im Bafög-Amt gestellt wird, ist, ob es starre Einkommensgrenzen für die Eltern gibt. Die gibt es nicht, aber es gibt einen Online-Bafög Rechner, der immerhin eine kleine Orientierungshilfe gibt. Ausschlaggebend ist die Summe der positiven Einkünfte der leiblichen Elternteile. Gegen dieses Einkommen werden dann unter anderem Freibeträge gegengerechnet – in Patchworkfamilien auch dritte oder vierte Personen, die in den Haushalten aufgenommen wurden. Darüber hinaus geht es um die Anzahl der Kinder in Ausbildung und um andere unterhaltsberechtigte Familienmitglieder; dies können etwa Pflegebedürftige sein.
Wir empfehlen daher allen Studierenden: Stellen sie auf jeden Fall einen Antrag und lassen Sie Ihren persönlichen Anspruch prüfen!
Viele Studierende schätzen ihre Chancen auf Bafög als zu gering ein, würden jedoch oft zumindest einen Teilbetrag bekommen. Schon 100 Euro im Monat sind mehr als ein gutes Taschengeld – zusätzlich zur Unterstützung der Eltern und gegebenenfalls einem kleinen Nebenjob. Fällt der Bescheid der Höhe nach negativ aus, signalisiert er dann zumindest den Eltern, dass sie grundsätzlich in der Lage sein müssten, ihr Kind im Studium voll finanziell zu unterstützen. Das ist eine gute Grundlage für die Diskussion in der Familie.
In der Pandemie sind viele Eltern, auch Akademiker, in Kurzarbeit gegangen oder gar arbeitslos geworden. Auch diese Umstände hat die Zahl der Bafög-Berechtigten erhöht. Wir arbeiten seit Monaten unter Hochdruck daran, entsprechende Anträge und Ansprüche zu berechnen. Selbstverständlich sind uns als Behörde bei Entscheidungen gesetzliche Grenzen gesetzt. Aber wir als Amt für Ausbildungsförderung sind immer auf der Seite der Studierenden. Neben der Entwicklung der maßgeblichen Einkünfte ist auch die Förderung über die Regelstudienzeit hinaus in den letzten Pandemiesemestern ein großes Thema.
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Paul Nolte (58) ist Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und hat 1983/84 Bafög bekommen.
Mein Vater war evangelischer Pfarrer, er hat uns vier Kinder zeitweise allein großgezogen. Es war eine große Hilfe, dass ich in den ersten beiden Semestern immerhin 170 Mark Bafög bekam. Als ich 1982 Abitur machte, hatte es sich, obwohl nach einem sperrigen Gesetz benannt, im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert. Studium und Bafög wurden stets in einem Atemzug genannt.
Auch wenn die staatliche Ausbildungsförderung als genuin sozialdemokratisches Projekt gilt: Die seit 1969 regierende sozialliberale Koalition unter Willy Brandt griff damit die Debatte über Bildungsgerechtigkeit auf, in der Ralf Dahrendorf „Bildung als Bürgerrecht“ und Georg Picht „die Bildungskatastrophe“ ausriefen. Insgesamt erfolgte ein Paradigmenwechsel: An die Stelle des bildungsbürgerlichen Privilegs zu studieren, trat die Öffnung des Studiums für alle.
Das Modell funktionierte, solange es die alte, industrielle Arbeiterschaft noch gab. Ihr fehlte das Geld, um die Kinder an die Uni zu schicken, sie hatte dafür aber den Aufstiegswillen und das kulturelle Kapital, etwa aus der Tradition der Arbeiterbibliotheken. Mit dem Bafög kam die entscheidende finanzielle Unterstützung dazu. Manche begabten und ehrgeizigen Arbeiterkinder überflügelten Bürgerkinder an der Uni.
Heute wird das Bafög von sozial Benachteiligten nicht mehr in derselben Weise als Aufstiegsinstrument angenommen. Es müsste viel mehr darüber informiert und dafür geworben werden. Die Kinder dieser Schicht sind aber an der Uni auch häufig weniger erfolgreich, das zumindest erlebe ich im Fach Geschichte.
Woran liegt das? Manche bringen nicht das kulturelle Kapital mit, auch weil die Schulen ihrer Aufgabe als soziale Gleichmacher zu wenig gerecht werden.
Bei anderen Studierenden steht das Jobben zu sehr im Vordergrund, Seminare werden versäumt, weil sie „auf Arbeit“ sind. Warum beantragen sie kein Bafög und konzentrieren sich auf ihr Studium?
Die Teilrückzahlung, die ja stark gedeckelt ist, sollten sie nicht scheuen. Wer einen guten Abschluss macht und den möglichst in der Regelstudienzeit oder etwas darüber, hat auch in den Geisteswissenschaften gute Chancen auf ein gutes und sicheres Einkommen, zumal im Lehramt.