Wissen: Dampfschiffe in der Wüste
Vor 150 Jahren wurde der Suezkanal eröffnet. Die Nutzung der Wasserstraße zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer bedeutete eine Zäsur.
Es war eine Weltsensation, als vor 150 Jahren der Suezkanal eröffnet wurde. Per Schiff waren eigens die Herrscherfamilien der europäischen Großmächte angereist, um am 16. und 17. November 1869 den pompösen Feierlichkeiten beizuwohnen. Zehn Jahre hatte der Bau gedauert – doch der Traum, das Mittelmeer mit dem Roten Meer zu verbinden, reicht mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurück. Der Seeweg zwischen Europa und Asien wird durch den Kanal drastisch verkürzt. Statt den gesamten afrikanischen Kontinent zu umfahren, geht es nun 160 Kilometer mitten durch die ägyptische Wüste. So wurde zum Beispiel die Entfernung zwischen Großbritannien und Indien um 4.500 Kilometer reduziert.
„Für die Menschen im 19. Jahrhundert symbolisierten solche Infrastrukturprojekte die Zukunft“, sagt Valeska Huber. „Man glaubte, dass die Welt durch die technische Entwicklung näher zusammenrückt.“ Die Historikerin am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität hat die Geschichte des Kanals aus globaler Perspektive untersucht. „Port Said, eine kleine Mittelmeerstadt am Eingang des Kanals, wird im 19. Jahrhundert zum Umschlagplatz der Weltgeschichte“, sagt sie. Dort begegneten sich nicht nur Asien, Europa und Afrika, sondern auch ganz unterschiedliche Formen der Mobilität: Dampfschiffe treffen auf Karawanen, Kolonialbeamte auf Seeleute und Händler aus aller Welt.
„Nicht zuletzt verschifften die Großmächte über den Kanal auch ihre Truppen“, sagt Huber. „Franzosen, Niederländer und Engländer beobachteten sich dort ständig gegenseitig und versuchten, die nächsten Schritte ihrer Konkurrenten zu deuten.“ In ihrem Buch Channelling Mobilities: Migration and Globalisation in the Suez Canal Region and Beyond, 1869–1914 kommt Huber zu einer kritischen Einschätzung. „Die Geschichte der Globalisierung ist keine Geschichte eines friedlichen Zusammenwachsens der Welt“, sagt sie. „Öffnungen vollziehen sich nicht ohne neue Formen der Kontrolle und Machtausübung.“
Eine der wichtigsten Passagen der Geschichte
Den europäischen Imperialmächten habe der Kanal auch ermöglicht, ihre Kolonien in Afrika und Asien effizienter zu dominieren. „In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die britische Herrschaft in Indien durch eine Reihe von Aufständen in die Krise geraten“, sagt Huber. „Der Suezkanal erschien hier als mögliche Lösung der Probleme.“ Indem sich der Seeweg verkürzte, versuchte man, die Kolonie enger an das Mutterland zu binden, etwa durch die vereinfachte Reise von Kolonialbeamten und deren Familien. Auch auf Aufstände konnte man flexibler reagieren, Truppen und Kriegsgerät schneller entsenden. Gleichzeitig beschleunigte sich durch neue Infrastrukturen allerdings auch der Austausch antikolonialer Ideen.
Gebaut wurde der Suezkanal auf Betreiben des französischen Diplomaten Ferdinand de Lesseps; eine internationale Aktiengesellschaft übernahm später den Betrieb. Doch der Kanal wurde für die Briten so wichtig, dass sie im Jahr 1882 in Ägypten einmarschierten und das Land besetzten. „Die Ägypter hatten davon geträumt, dass der Kanal sie auf Augenhöhe mit den Europäern bringen würde“, sagt Huber. „Stattdessen hat er sie tiefer in die koloniale Abhängigkeit geführt.“
Für Ägypten ein Symbol des nationalen Selbstverständnis'
Erst im Jahr 1956 verstaatlicht der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser den Kanal. Israel, Frankreich und Großbritannien wollen das nicht hinnehmen – sie reagieren mit einem Militärschlag. Doch die globalen Machtverhältnisse haben sich inzwischen geändert. Im angespannten Klima des Kalten Krieges versagen die USA den einstigen europäischen Kolonialmächten und Israel die Unterstützung. Durch ihren massiven politischen Druck beenden sie die sogenannte Suezkrise in wenigen Monaten. „Der Kanal wird seitdem vom ägyptischen Staat betrieben“, sagt Huber. „Im nationalen Selbstverständnis Ägyptens spielt das nach wie vor eine immense Rolle.“
Auch nach Abschluss ihrer Forschungsarbeit beschäftigt sich Valeska Huber mit globalen Infrastrukturen. Seit 2017 leitet sie die Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe „Reaching the People: Kommunikation, Zugang zur Weltöffentlichkeit und globale Ordnung im 20. Jahrhundert“. Dort werden vor allem Bildungs- und Informationskampagnen untersucht, etwa Alphabetisierungsprogramme von Missionaren oder die Gründung amerikanischer Universitäten im Nahen Osten. „Es ist hier ähnlich wie mit dem Suezkanal“, sagt sie. „Man kann diese Projekte als Befreiung deuten – oder als Instrument politischer Machtausübung.“
Dennis Yücel