Diagnose: Computer liest seltene Erbkrankheiten aus dem Gesicht
Oft dauert es Jahre, bis Eltern den Arzt finden, der in den Symptomen ihres Kindes eine der tausenden seltenen Erkrankungen erkennt. Nun soll eine Software helfen.
Eine Software kann anhand von Porträtfotos recht zuverlässig auf seltene Erbkrankheiten des Menschen schließen. Forscher aus den USA, Israel und Deutschland stellen im Fachblatt "Nature Medicine" das Programm "DeepGestalt" vor, dass mehr als 200, meist überaus seltene Syndrome erkennen kann. Bei einem Anfangsverdacht könne die Software die Zahl der möglichen genetischen Ursachen eingrenzen und so die Diagnose beschleunigen, sagt Ko-Autor Peter Krawitz vom Uniklinikum Bonn. Die medizinischen Möglichkeiten solcher Netzwerke reichen demnach aber noch wesentlich weiter.
Schwierige, oft langwierige Diagnose
Etwa zwei bis acht Prozent der Bevölkerung hätten ein genetisch bedingtes Syndrom, sagt Krawitz. Ein Drittel bis die Hälfte dieser Erkrankungen gehe mit mentaler Retardierung einher, die sich oft schon im Kleinkindalter zeige. "Wegen der großen Zahl möglicher Syndrome und ihrer Seltenheit ist die richtige Diagnosestellung ein langwieriger und teurer Prozess", schreibt das Team um Yaron Gurovich vom Bostoner Unternehmen FDNA. Bisher könnten nur einige wenige Experten ungewöhnliche Erscheinungsbilder oder äußerst seltene Symptome erkennen. Automatisierte Systeme hätten das Potenzial, die Situation deutlich zu verbessern.
Die Software DeepGestalt untersucht Frontalaufnahmen von Gesichtern auf charakteristische Auffälligkeiten und analysiert dazu etwa die Form der Augen, des Mundes, des Kinns oder den Abstand zwischen den Augenbrauen. Das künstliche neuronale Netzwerk - eine Technologie, die Mustererkennung wie im Gehirn nachahmt - achtet unter anderem auf 130 Punkte im Gesicht, vergleicht diese mit 216 Syndromen und listet anhand der Übereinstimmungen und Unterschiede die wahrscheinlichsten genetischen Ursachen auf. "In der Datenbank wird das Patientenfoto mit vielen Bildern abgeglichen und eine Gesamtähnlichkeit ermittelt", erläutert der Bioinformatiker Krawitz.
Software an 17000 Bildern trainiert
Am aufwendigsten war laut Krawitz das Training der Software an einem Datensatz von mehr als 17.000 Bildern. So wurde etwa das Erkennen des Cornelia-de-Lange-Syndroms (CdLS) anhand von 614 Bildern von Betroffenen und knapp 1100 Bildern anderer Menschen geübt. In einem nachfolgenden Test, ob jemand dieses Syndrom hat oder nicht, erreichte das Programm eine Zuverlässigkeit von 97 Prozent. Beim Angelman-Syndrom, für dessen Training Bilder von knapp 770 Betroffenen und knapp 2700 anderen Menschen verwendet wurden, lag die Zuverlässigkeit bei 92 Prozent. Bei diesen beiden Tests ging es allerdings nur darum, ob jemand dieses eine Syndrom hat oder nicht. Es diente letztlich vor allem dazu, die Sensitivität der Software einzustellen.
In zwei weiteren Tests prüften die Forscher dann, wie gut DeepGestalt einem Gesichtsfoto einen von 216 unterschiedlichen Gendefekten zuordnen kann. Nach der Analyse gab das System eine Top Ten möglicher Diagnosen aus: Die Wahrscheinlichkeit, das der tatsächliche Gendefekt unter diesen Top Ten zu finden war, lag bei etwa 90 Prozent. In etwa 65 Prozent der Fälle traf sogar die als am wahrscheinlichsten geltende Diagnose zu.
Unterstützung für Kinderärzte, um gezieltere Diagnostik einzuleiten
Eingesetzt werden könne die Software etwa von Kinderärzten, zu denen Eltern mit auffälligen Kindern kämen, sagt Krawitz. Allerdings liefere das Programm nur Verdachtsdiagnosen, die dann von Laboren überprüft werden müssten. "Der Wert liegt darin, dass etwa Kinderärzte damit im Idealfall in Absprache mit einem Humangenetiker eine gezielte Diagnostik veranlassen können", erläutert der Bioinformatiker. Dies beschleunige die Diagnose. Derzeit seien selbst Experten mit der Diagnose oft überfordert, weil die Zahl der neu entdeckten Syndrome kontinuierlich steige.
Die Diagnose von Erbkrankheiten ist nur eine von vielen Anwendungen von Künstlicher Intelligenz in der Medizin. Ähnliche Softwares werden laut Krawitz derzeit zur Auswertung von anderen Bildern entwickelt, etwa von MRT-Aufnahmen oder von Fotos der Netzhaut. Und noch stehe die Entwicklung ganz am Anfang, sagt Krawitz. "In wenigen Jahren wird man damit beginnen, die Netzwerke miteinander zu verknüpfen." Walter Willems (dpa)