Ian Kershaw 70: Chronist der dunkelsten Jahre
Ian Kershaw entzauberte den Hitler-Mythos und untersuchte die Mentalität der Deutschen, "die dem Führer entgegenarbeiten wollten": Zum 70. Geburtstag des britischen Historikers.
Nazizeit und Zweiter Weltkrieg, das hat kürzlich erst die breite Diskussion über den Fernsehdreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ bestätigt, lasten unverändert schwer auf dem deutschen Kollektivbewusstsein. Davon ist auch die historische Wissenschaft berührt. Wohl auch daran liegt es, dass der englische Historiker Ian Kershaw hierzulande nicht nur Erfolg mit seinen zahlreichen Büchern zu dem düsteren Zeitraum von 1933 bis 1945 hat, sondern auch als neutraler Gesprächspartner überaus gefragt ist. Und natürlich liegt es daran, dass Kershaw hervorragend schreiben kann, uneitel, unaufgeregt, stets auf den Punkt kommend, aber nie besserwisserisch oder bevormundend.
Ursprünglich von der Mittelaltergeschichte her kommend, hat er sich seit den 1970er Jahren der Nazizeit zugewandt. Mit einem Schlag bekannt wurde er durch seine Hitler-Biografie, die in zwei Bänden 1998 und 2000 erschien, in der deutschen Ausgabe 2300 Buchseiten stark und doch kein bisschen weitschweifig. Detailversessen gewiss, weil nur aus der Auswertung aller überhaupt denkbaren Quellen jene Analyse zu gewinnen war, die Kershaws Biografie über die bis dahin gängigen Biografien hinaushebt.
Der knapp zwei Jahrzehnte bis zur Emeritierung 2008 in Sheffield lehrende Historiker – seit 2002 Sir Ian – zeichnet ein ambivalentes Bild Hitlers, den er einerseits als Schlüsselfigur der NS-Verbrechen begreift wie vor ihm Joachim Fest, andererseits als charismatischen Führer im Sinne Max Webers, der den Stimmungen in der Bevölkerung eine Stimme verleiht. Einer Bevölkerung, die „dem Führer entgegenarbeiten“ wollte, wie Kershaws Schlüsselwort für die Haltung der Deutschen lautet. Erst 1999 kam, im Gefolge der Biografie, Kershaws bereits 1987 publizierte Studie über den „Hitler-Mythos“ in deutscher Übersetzung heraus, die die seinerzeit noch weit verbreitete Legende vom Volk, das allein das Opfer nationalsozialistischer Propaganda gewesen sei, korrigiert.
Der „Hitler-Mythos“ öffnete dem Regime Handlungsspielraum gegenüber einer bestenfalls passiven Bevölkerung, in dem die Verbrechen insbesondere an den Juden hingenommen und überhaupt erst möglich wurden. „Dass Hitler kein Tyrann war, der einem unterdrückten deutschen Volk seinen Willen aufzwang“, hat Kershaw an anderer Stelle geschrieben. Vielmehr sei er ein Produkt der deutschen Gesellschaft gewesen „und für einen Großteil der dreißiger Jahre der wohl populärste Führer der ganzen Welt“. Dies erkläre zum Teil, warum er nicht „vergangen“ ist und warum sein Schatten immer noch auf die Gegenwart falle.
Hitlers charismatische Herrschaft wirkte bis zu seinem Tod
Ihre furchtbare Folge fand die Hitler-Begeisterung im hartnäckigen Widerstand, den die Bevölkerung den vorrückenden Alliierten in der letzten Kriegsphase 1944/45 leistete. Aufgrund der mentalen Disposition zu Gehorsam und Fanatismus erwies sich auch das als Fanal gedachte und erhoffte Attentat vom 20. Juli 1944 als völliger Fehlschlag: Danach wurde jeder Ansatz zu Widerstand oder gar Kapitulation unmöglich. „Hitlers Fähigkeit, die Massen zu begeistern, wirkte schon länger nicht mehr“, urteilt Kershaw 2011 in seinem Buch über „Das Ende“ in den letzten Kriegsmonaten: „Gleichwohl blieben Strukturen und Mentalitäten von Hitlers charismatischer Herrschaft bis zu seinem Tod im Bunker wirksam.“
Die englische Tradition der kontrafaktischen Betrachtung des „Was wäre gewesen, wenn“ setzte Kershaw fort, als er die „Wendepunkte“ – so der Buchtitel von 2007 – im Verlauf des Zweiten Weltkriegs unter die Lupe nahm. Und zu dem Ergebnis kam, dass der Krieg aufgrund der Entscheidungen der Diktatoren so stattfinden musste, wie er stattfand, und dass es keine Alternative zur vollständigen Niederlage Hitlerdeutschlands geben konnte. So lautete denn auch sein Urteil über die Bombardierung Dresdens im Februar 1945, nach der er des Öfteren gefragt wurde, sehr deutlich: Es sei „eine fehlgeleitete militärische Strategie“ gewesen, „aber kein Verbrechen, das man mit den schrecklichen Untaten der Nazis auf eine Stufe stellen kann“.
Auch der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa gewinnt Kershaw das positive Resultat ab, „lange und bittere Konflikte in diesen ethnisch gemischten Gebieten beseitigt“ zu haben.
„Nicht zynisch, sondern nüchtern“, hat Kershaw selbst sein Urteil bezeichnet. Diese Nüchternheit, nicht mit Indifferenz zu verwechseln, hat Kershaw zum gefragten Geschichtsdeuter gemacht. Bezeichnend für seine Haltung ist, was er im Rückblick auf den „Historikerstreit“ der späten achtziger Jahre schrieb: „Stalins Verbrechen verringern Hitlers Verbrechen – oder Deutschlands ererbte Verantwortung – nicht um ein Jota.“ Am heutigen Montag wird der im nordenglischen Lancashire geborene Ian Kershaw 70 Jahre alt.
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