Neue Studie zur Vertreibung: Chaotisch und unmenschlich
Erblast der europäischen Geschichte: Ein US-Historiker rekonstruiert die Vertreibungen nach 1945, die Hunderttausende von Todesopfern forderten. Das Schicksal der Sudetendeutschen bildet ein besonders bedrückendes Kapitel in der Studie.
Eine Postkarte des „Verbands der Freunde der Sowjetunion in der Tschechoslowakei“ vom Mai 1945 zeigt fröhliche Soldaten auf einem Militärfahrzeug, die einen Strom von deutschen Flüchtlingen beifällig betrachten. Es ist ein Dokument aus den Tagen unmittelbar nach Kriegsende, als die Vertreibung der Sudetendeutschen nicht etwa spontan in Gang kam, sondern organisiert vonstattenging. Ansichtspostkarte inklusive. Vertreibung? Aussiedlung? Ethnische Säuberung?
Das 20. Jahrhundert ist als „Jahrhundert der Vertreibungen“ bezeichnet worden. Erst der Nationalismus, der als Erbe der Französischen Revolution und der napoleonischen Eroberungskriege im 19. Jahrhundert Europa erfasste, machte die Vorstellung eines ethnisch homogenen Staatswesens geläufig. Gab es in früheren Zeiten Glaubensflüchtlinge wie die Hugenotten, keimte nun der Gedanke einer „Reinigung des Volkskörpers“, sprach man umgekehrt von „unerlösten Gebieten“, wo eine Minderheit des „eigenen“ Volkes darbe.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es die zahlenmäßig größten „Bevölkerungsverschiebungen“ – noch ein Euphemismus. Zwölf Millionen ethnische Deutsche mussten ihre Heimat verlassen und gelangten in die beiden Staaten, die die Siegermächte auf dem verkleinerten deutschen Staatsgebiet gebildet hatten. Die Alliierten der Kriegskoalition hatten diese Umsiedlungen denn auch beschlossen und auf der Potsdamer Konferenz vom August 1945 sanktioniert. Doch Ende 1947 zogen die amerikanischen Vertreter im Alliierten Kontrollrat eine ernüchternde Bilanz. Sie befürworteten, „dass der Kontrollrat sich gegen alle künftigen Zwangsumsiedlungen ausspricht, insbesondere die gewaltsame Entfernung von Menschen aus Orten, die seit Generationen ihre Heimat sind“.
Schon über die bloßen Fakten lässt sich bis heute kaum Einigkeit erzielen, von der moralischen und politischen Bewertung ganz zu schweigen. Einen neuen Anlauf unternimmt der amerikanische Historiker Ray M. Douglas in seinem soeben erschienenen Buch „,Ordnungsgemäße Überführung’. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg“. Der Titel der Originalausgabe „Orderly and Humane“ ist treffender, zeigt Douglas doch, dass die Vertreibungen alles andere als „geordnet und human“ verliefen, sondern Hunderttausende von Todesopfern forderten; oft bereits in den Tausenden improvisierter Internierungslager.
Die Geschichte der „Sudentendeutschen“, zu denen die Deutschböhmen der 1918 zerteilten Donaumonarchie wurden, bildet ein besonders bedrückendes Kapitel in Douglas’ Studie. Diese Bevölkerungsgruppe wurde gezwungen, mehrfach ihre Staatszugehörigkeit zu wechseln, um am Ende als Nazis stigmatisiert und aus ihrem jahrhundertealten Siedlungsgebiet vertrieben zu werden. Douglas macht einmal mehr deutlich, dass die Vertreibungen aus der Tschechoslowakei mitnichten als Folge der Annexionspolitik des NS-Regimes zu erklären sind. Vielmehr wurden sie vom Präsidenten der Vor- wie der Nachkriegszeit, dem erklärten Nationalisten Edvard Benes, seit jeher erhofft und seit 1938 politisch in die Wege geleitet, insbesondere durch enge Zusammenarbeit mit Stalin. Aber auch Churchill hatte Benes bereits 1943 die – ausdrücklich gewaltsame – Vertreibung der Deutschen zugestanden. Die Rechtmäßigkeit von Bevölkerungstransfers stand auf dem Hintergrund des Kriegsverlaufs nie zur Debatte, wie Douglas erstaunt zur Kenntnis nimmt. Noch aus der UN-Völkermordkonvention wurde das Verbot gewaltsamer Vertreibung wieder gestrichen, in diesem Fall auf Druck der USA.
Douglas, der bislang nicht mit Veröffentlichungen zur Vertreibung hervorgetreten ist, stützt sich in den Schilderungen der blutigen Praxis der Vertreibungen ausdrücklich nicht auf Erlebnisberichte Vertriebener, die aus Gründen politischer Opportunität in der frühen Bundesrepublik oft verzerrt waren, sondern allein auf „die Berichte von humanitären Organisationen wie dem Roten Kreuz und von westlichen Diplomaten und vor allem auf Archivbestände der ’Vertreiberstaaten’“.
Daraus hatte auch bereits die von polnischen Historikern erarbeitete und 2009 in deutscher Übersetzung erschienene „Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung. Mittel- und Osteuropa 1939 bis 1959“ geschöpft. Mit ihrem reichen Kartenmaterial macht die Chronik deutlich, wie eng verwoben die Umsiedlungen verschiedener ethnischer Bevölkerungsgruppen in diesem geografischen Raum tatsächlich waren (Verlagsgruppe Weltbild, Augsburg 2009).
Nur in einer solchen, historisch bis zum Ersten Weltkrieg zurückreichenden und politisch die konfrontativen Staaten und Diktaturen der Zwischenkriegszeit umfassenden Betrachtungsweise lässt sich das Schicksal von 11,6 Millionen geflohenen, vertriebenen oder deportierten Deutschen verstehen. Ohne Revanchismus auf der einen und Rechtfertigung auf der anderen Seite. Beides hat die Geschichte der Vertreibungen zu einem Tabuthema gemacht, oder wie Douglas aus internationaler Perspektive zuspitzt, zum „am besten gehüteten Geheimnis des Zweiten Weltkriegs“. Vor der bundesdeutschen „Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung“ liegt ein Berg an Arbeit, zumal wenn ihr dritter Namensbestandteil gelebte Wirklichkeit werden soll.
Erst im November 2005 einigte sich die schwarz-rote Koalition darauf, „im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen zu setzen, um an das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung für immer zu ächten“. Daraus entstand Ende 2008 die „Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung“, die unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums (DHM) angesiedelt ist. Das DHM soll gewissermaßen die Gewähr bieten, dass die Arbeit der Stiftung, insbesondere die künftige Dauerausstellung im Deutschlandhaus, eingebettet ist in die offizielle Geschichtsdarstellung der Bundesrepublik. Die Leitlinie lautet, es müssten „die historischen Voraussetzungen für Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den historischen Ost- und Siedlungsgebieten während und nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik ausreichend dargestellt und dokumentiert werden“.
Da wird eine ganze Anzahl heikler Punkte angesprochen. Eine Tagung zu diesem Themenfeld an der Freien Universität Berlin ließ unlängst zahlreiche Differenzen in den Details juristischer Auslegungen erkennen. Die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, selbst 1943 im slowakischen Bratislava geboren, legte ernüchternd dar, dass es ein individuelles Recht auf Heimat nicht gibt, nicht in der Ordnung des Grundgesetzes und auch nicht im Völkerrecht. Was es heute gibt, sind „Rückkehrrecht, Binnenfreizügigkeit, Schutz vor willkürlicher Abschiebung“ und dazu die Stärkung der Rechtsstellung indigener Völker gegenüber staatlichem oder auch wirtschaftlichem Zwang.
Welche völkerrechtlichen Bestimmungen aber waren 1945 anwendbar? Darüber ließ sich in Dahlem kein Einvernehmen herstellen. So stellte Jerzy Kranz von der Wahrschauer Akademie fest, für die nach polnischem Sprachgebrauch „wiedererlangten“ Gebiete sei die Haager Landkriegsordnung nicht maßgeblich gewesen. Denn es handele sich ja nicht um besetzte, sondern um originär polnische Gebiete. Der Gießener Völkerrechtler Thilo Marauhn wies dagegen auf die hilfsweise anwendbare „Martens’sche Klausel“ aus dem Jahr 1899 hin. Sie besagt, „dass die menschliche Person in den vom geltenden Recht nicht erfassten Fällen unter dem Schutz der Grundsätze der Menschlichkeit und der Forderungen des öffentlichen Gewissens verbleibt“. Verbindlich festgehalten wurde das allerdings erst im Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen, unterzeichnet am 12. August 1949. Da waren die Zwangsaussiedlungen weitgehend abgeschlossen. Sie bilden eine bis heute drückende Erblast der europäischen Geschichte.
R. M. Douglas:
„Ordnungsgemäße Überführung“.
Die Vertreibung der Deutschen nach dem
Zweiten Weltkrieg, C.H.Beck Verlag,
München 2012.
560 Seiten, 29,95 Euro.
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