Teilchenbeschleuniger LHC: Cern-Physiker kommen dem Gottesteilchen näher
Seit Jahren suchen Physiker nach dem Higgs-Teilchen. Gefunden haben die Forscher am Cern das sogenannte Gottesteilchen noch nicht - aber sie konnten das Suchgebiet deutlich verkleinern.
Dafür, dass es noch keiner gesehen hat, ja noch nicht einmal klar ist, ob es überhaupt existiert, hat es das Higgs-Teilchen zu einiger Berühmtheit gebracht. Es ist das Erste – und oft Einzige –, was in der Öffentlichkeit mit dem 27 Kilometer langen Genfer Beschleunigerring LHC (Large Hadron Collider) in Verbindung gebracht wird. Seit zwei Jahren versuchen dort Physiker aus aller Welt, das Higgs nachzuweisen. Bei einem Seminar am europäischen Kernforschungszentrum Cern, das den LHC betreibt, wurden gestern die neuesten Daten vorgestellt.
Erwartungen, wonach dort die Entdeckung des ominösen Teilchens verkündet wird, hatte das Cern bereits zuvor gedämpft und lediglich „signifikante Fortschritte“ in Aussicht gestellt. Doch selbst die dürften kleiner sein als manche Nicht-Fachleute von der „Weltmaschine“ erhofft hatten. Die wesentliche Botschaft: Das Higgs-Teilchen hat sehr wahrscheinlich eine Masse zwischen 115 und 130 Gigaelektronenvolt (GeV, so lautet die Einheit, mit der Teilchenphysiker arbeiten, wobei ein Proton ungefähr eine Masse von etwa einem GeV hat). Damit sei das Suchgebiet eingeschränkt worden, was die Erfolgschancen erhöht. In den vergangenen Wochen hätten die Forscher in den Daten ein auffälliges Signal bei 125 GeV gefunden, berichtete Fabiola Gianotti, Sprecherin der Forscher vom „Atlas“-Detektor. Es könnte ein Hinweis auf das Teilchen sein. „Aber derzeit können wir keine klare Aussage dazu machen.“
Mit dem Higgs-Teilchen ärgern sich die Forscher schon seit Jahrzehnten herum. Es ist der letzte fehlende Baustein im Standardmodell der Physik. Damit wird das Theoriegebäude bezeichnet, das nach Ansicht der meisten Physiker am besten erklären kann, wie die Materie und die dazwischen wirkenden Kräfte entstanden sind. Genau genommen geht es den Forschern weniger um das Higgs-Teilchen, sondern eher um das gleichnamige Feld. Der bereits 1964 entwickelten Theorie zufolge reagiert es mit Elementarteilchen und verleiht ihnen Masse (siehe Kasten).
Doch wie lässt sich der Higgs-Mechanismus beweisen? „Wir gehen davon aus, dass das Higgs-Feld auch selbst Teilchen erzeugen kann. Die wollen wir finden“, sagt Wolfgang Mader, Teilchenphysiker an der TU Dresden und beteiligt am Atlas-Experiment am LHC. Voraussetzung sei, dass das Higgs-Feld stark genug angeregt werde. „Wenn zwei nahezu lichtschnelle Protonen zusammenstoßen, wie es im LHC geschieht, sollte der Theorie zufolge genug Energie frei werden, um Higgs-Teilchen entstehen zu lassen.“
Das Problem besteht darin, die Teilchen nachzuweisen, denn unmittelbar nach ihrem Entstehen zerfallen sie wieder. Also suchen die Teilchenphysiker nach den Zerfallsprodukten. Aber nach welchen? „Je nachdem, wie schwer das Higgs-Teilchen ist, gibt es unterschiedliche Zerfallswege“, sagt Mader. Bei einer größeren Masse werde vor allem der Zerfall in W- und Z-Bosonen erwartet, bei einer geringeren Masse sei eher mit Zerfällen in Photonen oder Tau-Leptonen zu rechnen – um nur die wichtigsten zu nennen. Die Theorie sagt aber nicht, welche Masse das Higgs hat, sprich: wo die Physiker suchen müssen.
Immerhin konnten sie mithilfe der Daten, die am LHC und anderen Teilchenbeschleunigern gewonnen wurden, bereits große Massebereiche ausschließen. Schon vor Monaten war klar, dass die besten Chancen für einen Fund zwischen 114 und 140 Gigaelektronenvolt liegen.
Mader und seine Kollegen vom Atlas-Detektor konzentrierten sich auf die Fährte der Tau-Leptonen. Auch die sind instabil und zerfallen jeweils in ein oder drei als Pion bezeichnete Teilchen, die schließlich von den Messgeräten registriert werden. „Über eine spezielle Software setzen wir die registrierten Pionen wieder zu Tau-Leptonen zusammen“, erläutert er das Vorgehen. „Dann schauen wir, ob es zur gleichen Zeit noch ein zweites Tau-Lepton gegeben hat.“ Denn das Higgs-Teilchen sollte stets zwei dieser Leptonen bilden. Anhand der Messdaten können die Physiker die Energie und den Impuls der Tau-Leptonen berechnen – und daraus wiederum die Masse ihres Ursprungsteilchens, des Higgs-Bosons.
Klingt einfach, ist es aber nicht. Denn Tau-Leptonen entstehen auch bei anderen teilchenphysikalischen Vorgängen im LHC, etwa beim Zerfall von W- und Z-Bosonen. „Wir müssen also die ,richtigen‘ Leptonen finden“, sagt Mader.
Vor dem gleichen Problem stehen jene Forscher, die nach Photonen suchen, die möglicherweise von einem Higgs-Boson herrühren. „Photonen werden auch von Quarks abgegeben und das erschwert die Suche“, sagt Thomas Müller vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), der an den Messungen des CMS-Detektors beteiligt ist. Um das Problem zu lösen, berechnen die Physiker, wie viele Photonen bei den Kollisionen im Beschleuniger durch bekannte physikalische Prozesse entstehen. Sie tun so, als gäbe es kein Higgs-Boson. „Dann schauen wir, ob es in den realen Messwerten irgendwo eine Häufung von Ereignissen gibt, das wäre ein Hinweis auf das Higgs“, sagt Müller.
Eine Häufung, wie sie nun Fabiola Gianotti bei einer Masse von 125 GeV erwähnt hat, kann ebenso zufällig entstanden sein. So wie bei einem Münzwurf das Verhältnis Kopf zu Zahl langfristig 50:50 ist, kann es in einer kürzeren Messreihe durchaus vorkommen, dass der Kopf doppelt so häufig zu sehen ist wie die Zahl. Einen solchen Zufallsbefund müssen die Physiker ausschließen. Wobei der Münzwurf eine simple Entweder-oder-Geschichte ist, die Higgs-Physik aber ein Spiel mit Dutzenden Unbekannten, was die Sache enorm kompliziert macht.
„Je mehr Messdaten wir haben, umso sicherer können wir sein, dass wir keinem Zufallstreffer aufsitzen“, sagt der KIT-Physiker Müller. Wie viele braucht man, um wirklich sicher zu sein? „Da gibt es keine konkrete Zahl“, sagt er. „Das hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem davon, welche Masse das Higgs-Teilchen hat.“ Die ist aber noch nicht bekannt. Die Anzahl der bisher ausgewerteten Kollisionen genügt jedenfalls noch nicht, um das Higgs-Teilchen mit der Sicherheit verkünden zu können, die Physiker als ausreichend bezeichnen.
„Wir schätzen, dass wir Ende nächsten Jahres genug Daten haben, um sicher sagen zu können, ob es das Higgs-Teilchen überhaupt gibt oder nicht“, sagt Wolfgang Mader und lässt erkennen, dass ihm die Nicht-Existenz fast lieber wäre: „Es ist immer spannender, etwas zu entdecken, was man nicht vermutet hat.“ Dann gelte es für die Theoretiker, einen neuen Mechanismus zu entwickeln, der erklärt, warum bestimmte Teilchen eine Masse haben und andere nicht.
Doch auch im anderen Fall würden die Physiker den gut sechs Milliarden Euro teuren LHC nicht ausschalten und ein „Mission-accomplished“-Schild an den Eingang hängen. Dann werden die Messungen fortgesetzt, um die Eigenschaften des Higgs-Bosons genauer zu bestimmen: die Masse, die Art, wie es zerfällt (Wie viele Photonenpaare entstehen, wie viele Tau-Leptonen, wie viele b-Quarks?) und der Spin. „Wenn die praktischen Messwerte nicht mit der Theorie übereinstimmen, muss diese überarbeitet werden“, sagt Mader. Dann wird diese wieder getestet, wieder verfeinert, und so weiter. Es gibt noch allerhand zu tun.