Deutsche Jugendbewegung und die Folgen: Boden und Blut
Aus der naturliebenden deutschen Jugendbewegung erwuchsen grüne Utopien und völkische Verführung. Eine Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg lotet vor allem die Abgründe aus.
Der nackte junge Mann auf dem Felsen reckt die Arme gen Himmel. Die Fersen lösen sich schon vom Boden, sein blondes Haar lodert im Wind. Die aufgehende Sonne bescheint seinen schlanken, athletischen Körper.
Sämtliche Sehnsüchte der deutschen Jugendbewegung um 1900 hat der Maler Hugo Höppener, besser bekannt als Fidus, in seinem „Lichtgebet“ emblematisch verdichtet: Hoffnungen auf Heil, Erlösung und Aufbruch, asketische Feier von Nacktheit und Schönheit, von Gesundheit, Kraft und Willen. In Zeiten stürmischer Industrialisierung ein emphatisches „Zurück zur Natur!“
In jedem zehnten bürgerlichen Haushalt soll Fidus’ „Lichtgebet“ in den 1920er Jahren gehangen haben – und auch das Germanische Nationalmuseum kommt in seiner Ausstellung „Aufbruch der Jugend“ an dieser Ikone der Lebensreform nicht vorbei. 280 Objekte insgesamt haben die Nürnberger in fünf Abschnitten arrangiert, von den Anfängen im Steglitzer Wandervogel bis in die Nachkriegszeit reicht diese bislang größte Schau zur Jugendbewegung und nichts könnte deren Geschichte besser auf den Begriff bringen als der Ausstellungstitel: „Zwischen Selbstbestimmung und Verführung“ schwankten schon die Jugendbewegten des Meißnerfests 1913, jener „Jahrhundertfeier aller lebensreformerischen Verbände“ auf einem Bergrücken bei Kassel.
Schon damals hatte Hugo Höppener sein Motiv auf Postkarten vermarkten lassen. Der Maler selbst steht für das ambivalente Erbe der Jugendbewegung, für Gesundheitsbewusstsein und Kriegerkult, für „Rassenhygiene“ und Naturheilkunde, für Ökolandbau und „Blut und Boden“. In den Jugendbünden verbreitete Höppener das Hakenkreuz, wurde 1932 NSDAP-Mitglied, doch den Nazis war seine Kunst zu kitschig. Anderes übernahm die Hitlerjugend von den Bündischen: Fahrten, Fahnen und Führer, darunter Hans Scholl, der sich später gegen die Nazis wandte und mit dem Leben bezahlte.
Auch andere Lebenswege deutet die Ausstellung an, aus heutiger Sicht wirken sie ebenso unwahrscheinlich: Jüdische Jugendbewegte übernahmen Ideen des deutschen Nationalismus, nur suchten sie Lebensraum nicht im Osten, sondern in Palästina. Die deutsche Jugendbewegung prägte den Zionismus, aus der „Wacht am Rhein“ wurde die „Wacht am Jordan“.
Aus dem Bund der Artamanen gingen Heinrich Himmler und Rudolf Höß hervor
Verantwortlich für Flucht und Vertreibung der Juden waren auch Jugendbewegte. Im Bund der Artamanen sammelten sich ab 1923 antisemitisch, agrarromantisch und völkisch verblendete junge Männer. Mit Arbeitsdiensten auf ostelbischen Landgütern wollten sie polnische Landarbeiter verdrängen und die deutsche Expansion fördern. Programmatisch standen die Artamenen den Nationalsozialisten nahe, 1934 gingen sie in den Landdienst der Hitlerjugend über. Manche machten Karriere: Heinrich Himmler wurde Reichsführer der SS, sein Artamenenbruder Rudolf Höß Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, erklärte der Hamburger Historiker Stefan Brauckmann jetzt bei einer Tagung zur Ausstellung. Auch die Schau selbst zeigt den Rassenwahn der Artamanen, auf dem Titel der Bundes-Zeitschrift prangten schon 1929 die Worte „Blut und Boden“.
Auch andere Ausstellungsstücke sind zum ersten Mal öffentlich zu sehen, verstaubten zuvor in Depots oder Archiven. August Engelhardts „Neues Evangelium“ etwa, ein Pamphlet für den Kokovarismus, eine Ernährung nur von Kokosnüssen und Licht, Vorlage für Christian Krachts Bestseller-Roman „Imperium“. Interessant ist auch ein Bierkrug mit Wandervogel-Symbolik, den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Denn die Wandervögel propagierten Alkoholabstinenz, auf dem Meißnertreffen 1913 hatten die Teilnehmer feierlich gelobt: „Alle Veranstaltungen der freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.“ Nicht alle Jugendbewegte hielten sich daran, rauch- und trinkfreudige Gruppen gingen schon vor dem Ersten Weltkrieg eigene Wege, plastisch nachzulesen in Ernst Jüngers „Annäherungen“ an „Drogen und Rausch“, 1970 erschienen.
Mehr Platz hätte der Ausstellung gut getan
Erfahrungen dieser Art geht die Nürnberger Schau allerdings nicht konsequent nach und auch andere Zusammenhänge finden nur am Rande Platz. Die Jugend wird zum eigenständigen Lebensabschnitt – aber warum? Weil Wissenschaft, Sozialgesetze, Industrialisierung und Arbeiterbewegung die Lebensverhältnisse der Deutschen verbesserten: Kinder mussten ihren Eltern nicht mehr das Überleben im Alter sichern, Geburtenrate, Wochen- und Lebensarbeitszeit sanken, der Einzelne hatte mehr Zeit und wurde wichtiger. In Lehrbüchern zur Zwischenkriegszeit lässt sich das längst nachlesen. Auch an anderer Stelle der Schau rätselt der Betrachter: Was übernahmen Arbeiter-Jugendverbände von den viel kleineren bürgerlichen Bünden mit ihren höchstens 100 000 Anhängern? Weil die Ausstellung auf die Bündischen beschränkt bleibt, erfährt es der Betrachter nicht. Um Zusammenhänge herzustellen, hätte der Schau mehr Platz gutgetan.
Geöffnet haben die Macher den Blick auf jugendbewegte Reisen, etwa die „Ostland-Fahrten“. Aus Sicht des Freiburger Historikers Rüdiger Ahrens trugen sie „deutlich aggressive Züge“. In der Ausstellung zeugt davon das Fahrtenbuch einer Jugendgruppe mit dem eingeklebten Emblem der Polnischen Staatsbahn. Als Trophäe hatten es die Jugendlichen aus dem Sitzbezug geschnitten.
Die Ostlandfahrer wollten den Anspruch auf Siedlungsgebiete stärken
Jugendbewegte Ostlandfahrer wurden später zu einflussreichen Volkskundlern. Sie suchten deutsche Kultur und Sprache in Osteuropa zu stärken, die Auslandsdeutschen an das Reich zu binden und dessen Anspruch auf Siedlungsgebiete zu stärken. Der nationalsozialistischen Lebensraumpolitik dienten diese Volkskundler als Berater bei Zwangsumsiedlungen, berichtete die Berliner Ethnologin Heinke Kalinke am Rande der Ausstellung.
Auch anderes Erbe der Jugendbewegung erwies sich als zwiespältig. Gegen den Drill der kaiserlichen „Kasernenschulen“ vertraten jugendbewegte Reformpädagogen das Ideal individuellen Lernens, die Nähe zwischen Erzieher und Zögling, zwischen Führer und ergebenen Jungen im Männerbund, dargestellt unter anderem auf einer Postkarte in der Ausstellung. Auch zu sehen: Spielzeug aus der Odenwaldschule. Dass die meisten der des Missbrauchs beschuldigten Odenwaldschullehrer aus der Jugendbewegung stammten, habe „viel mit den Schattenseiten jugendbewegter Geschichte zu tun“, schrieb der Hamburger Historiker Kristian Meyer kürzlich in der „Süddeutschen Zeitung“.
"Lichtgebet"-Maler Fidus fertigte nach 1945 Stalin-Bilder
Zu den Schattenseiten der Jugendbewegung zählte auch ihre Frauenfeindlichkeit. Frauen blieben – zeittypisch – am Rand, die Nürnberger Ausstellung hält sich daran. Im Zentrum stehen athletische Adorantenkörper und Aktdarstellungen junger Männer, wie Fidus sie malte.
Der Ikonenmaler der Jugendbewegung setzte seine Karriere nach dem Untergang des Dritten Reiches fort: Für die Sowjets fertigte Fidus Stalin-Porträts, im Tausch gegen Lebensmittelkarten.
Die Ausstellung „Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung“ zeigt das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg noch bis 19. Januar 2014. Der Katalog kostet 33 Euro.
Jonas Krumbein
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