Tierwanderung in großer Höhe: Billionen Insekten ziehen durch die Lüfte
Schmetterlinge, Käfer, Fliegen, Blattläuse - in bis zu 1200 Meter Höhe sind große Mengen Insekten unterwegs. Forscher haben einmal nachgezählt.
Mehr als 3000 Milliarden Insekten fliegen jedes Jahr im Durchschnitt über den Süden Großbritanniens. Praktisch niemand bekommt von dieser Massenwanderung etwas mit. Bis auf Jason Chapman vom Rothamsted Agrarforschungsinstitut im englischen Harpenden und seine Kollegen, die mit Radargeräten den Himmel über dieser Region durchleuchten. Die Zahl der Durchzügler schwankte zwischen 1900 Milliarden im Jahr 2007 und 5000 Milliarden Insekten 2003. Im Jahresdurchschnitt sind 3370 Milliarden Schmetterlinge, Käfer, Fliegen und Blattläuse in Höhen zwischen 150 und 1200 Metern über dem Erdboden unterwegs, berichten die Forscher im Fachblatt „Science“ (Band 354, Seite 1584).
Zusammen sind das 3200 Tonnen Insekten im Luftraum über dem Süden Englands. „Das entspricht der Masse von 20 000 Rentieren“, vergleichen die Forscher. Die 30 Millionen Singvögel, die jedes Jahr zwischen Großbritannien und Afrika pendeln, bringen dagegen nur 415 Tonnen auf die Waage.
„Am Himmel sind gigantische Mengen an Biomasse in Form von Insekten unterwegs, die eine enorme Bedeutung für die Natur haben“, erklärt Martin Wikelski, der an der Universität Konstanz Tierwanderungen erforscht. Wenn die fliegenden Sechsbeiner am Ende ihrer Reise in einer entfernten Region wieder auf den Erdboden zurückkommen, landen viele von ihnen in den Schnäbeln von Vögeln oder in den Mägen anderer hungriger Tiere. Die Überreste dieser eingeflogenen Mahlzeiten düngen als Kot später den Boden. Die Wanderer kurbeln daher einen riesigen Kreislauf von Nährstoffen an.
Mit den Insekten werden auch Krankheitserreger transportiert
100 Tonnen Stickstoff und zehn Tonnen Phosphor stecken in den Insekten, die jedes Jahr über dem Süden Großbritanniens unterwegs sind, rechnen Jason Chapman und seine Kollegen aus. Das sind genau die Dünger, auf die Pflanzen angewiesen sind. Obendrein transportieren die Insekten Krankheitserreger und Parasiten, die nach der Landung auf andere Organismen überspringen können.
Es gibt also handfeste Gründe, neben den Wanderungen von Vögeln und Fledermäusen auch die Wege der Insekten unter die Lupe zu nehmen. Das ist einfacher gesagt als getan. Sehen die Forscher doch vom Erdboden aus keine Blattlaus, keinen Käfer und auch keinen Schmetterling, wenn diese mehr als 150 Meter über ihren Köpfen fliegen. Daher tasten Jason Chapman und seine Kollegen den Himmel mit Radarstrahlen ab. Mittlere Insekten mit einem Gewicht von zehn bis 70 Milligramm und große Brummer mit bis zu einem halben Gramm reflektieren diese Wellen und die Forscher können an Hand der Echos messen, wie viele Tiere welcher Größenklasse mit welcher Geschwindigkeit und in welcher Höhe über ihren Köpfen unterwegs sind und in welche Richtung sie fliegen. Eine zwölf Meter hohe Saugfalle, die an einem Ballon 200 Meter über dem Boden hing, sammelte zusätzlich Proben der dort fliegenden Insekten auf.
Für den Süden Großbritanniens kennen die Wissenschaftler jetzt ein paar Daten. Wie viele Insekten und damit auch welche Nährstoff-Mengen und welche Krankheitserreger im Rest der Welt unterwegs sind und wie der Klimawandel die Winde und damit auch diese Massentransporte auf sechs Beinen beeinflusst, darüber tappen die Forscher weiterhin im Dunkeln. „Nur ein Netzwerk von Radarstationen wie im Süden Englands kann diese Fragen beantworten“, überlegt Wikelski. Damit könnte man auch beobachten, welche Strecken die Sechsbeiner in der Luft zurücklegen. „Solche Flüge können ganz schön weit führen“, sagt Wikelski, der mit einem Flugzeug mit einem winzigen Sender ausgerüstete Libellen schon mehr als 100 Kilometer weit über Nordamerika verfolgt hat.