Neuer Bildungskanon: Bildungsexperten fordern verbindlichen Schulstoff
Seit dem Pisa-Schock geht es in der Schule mehr um Kompetenzstufen als um die Lerninhalte, kritisieren Bildungsexperten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie wollen ein "Bildungsminimum", das von jedem Schüler gelernt werden muss.
Die ganze „Glocke“, nur die ersten drei Strophen – oder lieber ein eigenes Gedicht im Stil von Schillers Ballade „Das Lied von der Glocke“? Lange gehörte es in Deutschland zum Bildungskanon, das Gedicht zumindest teilweise auswendig zu können. Heute wird dies von Schülern kaum noch verlangt. Statt eines Bildungskanons, den die Schulen zu vermitteln haben, wird nach Bildungsstandards unterrichtet, die sich am Erwerb von Kompetenzen orientieren. Jetzt wollen Bildungspolitiker eine neue Diskussion über einen Bildungskanon für die Schule auslösen.
„Wir müssen ein Bildungsminimum dessen festlegen, was gelernt werden muss“, sagte die ehemalige Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Ute Erdsiek-Rave (SPD), am Donnerstag bei der Vorstellung des von ihr mitherausgegebenen Sammelbandes „Bildungskanon heute“, der bei der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienen ist. Darin setzen sich 25 Experten mit dem Bildungsbegriff auseinander – und mit der Frage, wie Schulbildung in Zeiten der Pisa-Tests aussehen soll. Unter den Autoren sind Heinz-Elmar Tenorth und Gesine Schwan.
Die Entwicklung hin zu Bildungsstandards und Kompetenzen begann nach dem Pisa-Schock im Jahr 2001, als den 15-Jährigen des Landes der Dichter und Denker im internationalen Vergleich Schulleistungen im unteren Mittelfeld attestiert wurden. Es gehe der Initiative für einen neuen Bildungskanon nicht darum, Bildungsstandards und Grundkompetenzen infrage zu stellen, betont Erdsiek-Rave. Es müsse aber ein bundesweiter Konsens darüber erzielt werden, „was die Schule ausgleichen muss zwischen den extremen Gegensätzen eines bildungsbürgerlichen Elternhauses mit einem großen Bücherschrank und einer Familie ohne jedes Buch“. Wieder über die „Inhalte schulischer Bildung zu sprechen“, gebiete die Chancengleichheit. Ein ausbau- und anschlussfähiges Bildungsminimum sollte sich an den Grund- und Menschenrechten orientieren, sagt Erdsiek-Rave. So müssten alle Kinder schon in der Grundschule lernen, „was das Christentum mit dem Islam verbindet, um Fremdheit abzubauen“.
Konkrete Inhalte für einen möglichen neuen „Schulkanon“ zu benennen, wagt kaum einer der Autoren des Sammelbandes. Die könnte eine unabhängige Institution wie der geplante Nationale Bildungsrat erarbeiten, sagt Jürgen Oelkers, Bildungsforscher an der Universität Zürich. Keinesfalls solle aber eine Liste von Gedichten entstehen, die gelernt werden sollen. Gesucht würden Inhalte, auf die man sich bundesweit verständigen kann, auch um der Zersplitterung des Schulwesens entgegenzuwirken und Mobilität von Eltern und ihren Kindern zu ermöglichen.
Oelkers plädiert für einen Rahmenlehrplan, der gerade im Hinblick auf den gesellschaftlichen Pluralismus „die gemeinsamen Inhalte künftiger Generationen festlegt“. Entstehen solle ein Fächerkanon, der weit über den „Pisa-Kanon“ (Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften) hinausgehe und Stoffmengen sowie wesentliche Inhalte auch im geisteswissenschaftlichen Spektrum, in Technik oder Geografie festlege.
Eine Art Kanon müssten Schulen auch im Umgang mit digitalen Medien vermitteln, sagt Erdsiek-Rave. Kinder und Jugendliche müssten von „Netzabhängigen“ zu mündigen Nutzern werden, lernen, wie man mit dem Wissensspeicher Internet kompetent und kritisch arbeitet. Die Diskussion über Inhalte stehe nicht im Widerspruch zu den Laptopklassen der Zukunft. „Auch dort kommt man an einem Kanon nicht vorbei.“
Angefordert werden kann die 192-seitige Publikation „Bildungskanon heute“ der Friedrich-Ebert-Stiftung kostenfrei per E-Mail an marion.stichler@fes.de
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