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Verhindert HIV. Das Medikament Truvada senkt das Risiko, sich mit dem Immunschwächevirus zu infizieren.
© dpa

Truvada als Prep: Bevor das Virus angreift

Wer täglich eine blaue Pille schluckt, kann sich damit vor dem Immunschwächevirus HIV schützen. Doch Truvada ist teuer – und der Ärger programmiert.

Die Faltblätter im Eingangsbereich der Praxis Jessen fallen sofort auf. „Gib Prep eine Chance“ steht dort – in einem ähnlich rot-schwarz-weißen Layout wie die altbekannten Plakate mit dem Slogan „Gib Aids keine Chance“. Sie werben für einen Präventionskongress in Berlin. Hier, mitten in Schöneberg, sind sie auch ein Anlass, über das Medikament Truvada als Prep zu reden. Die Abkürzung steht für das sperrige Wort „Präexpositionsprophylaxe“ (die Übersetzung in diesem Fall lautet: ein Mittel, das vorbeugend vor dem Sex eingenommen wird). „Uns fragen jeden Tag mehrere Patienten danach“, sagt der Arzt Heiko Jessen. „Zu uns kommen ja vor allem junge, schwule Männer. Und es hat sich in der Szene herumgesprochen, dass man sich mit Truvada vor HIV schützen kann.“

Bisher kann Jessen das Mittel jedoch höchstens off-Label verschreiben, auf Privatrezept. Eine Kanzlei hat extra einen zehnseitigen Aufklärungsbogen für ihn entworfen, er soll ihn von der Haftung entbinden. Diese rechtliche Unsicherheit ist bald vorbei. Truvada ist seit dem 22. August in 28 Ländern Europas als Prep zugelassen. In Deutschland wird das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn grünes Licht geben, sobald die Schulungsmaterialien für Ärzte abgestimmt sind. Ob es morgen soweit ist oder erst in ein paar Wochen, kann niemand sagen. Eine erste Version der Unterlagen habe man am 23. August eingereicht, heißt es beim Hersteller Gilead. Die nächste werde noch bearbeitet.

Die Pille macht Hoffnung

Rund 3200 Menschen infizieren sich hierzulande Jahr für Jahr mit dem Immunschwächevirus, die Zahlen bleiben trotz aller Werbung für Kondome nahezu konstant. Schätzungen zufolge ahnen 13 400 von 83 400 HIV-Positiven nicht, dass sie das Virus in sich tragen. „Sie können also andere anstecken“, sagt Barbara Bartmeyer, stellvertretende Fachgebietsleiterin HIV/Aids am Robert-Koch-Institut in Berlin. Etwa 54 000 sind Männer, die Sex mit Männern haben (MSM).

„Mit der Prep können wir etwas bewegen“, sagt Jessen und verweist auf das Beispiel San Francisco. Dort nimmt fast jeder vierte schwule oder bisexuelle Mann vorbeugend Truvada. Seit 2012 geht die Kurve der Neuinfektionen stetig nach unten. Prep ist freilich nicht der einzige Baustein des Erfolgs. Zusätzlich sind HIV-Tests leicht verfügbar und wer sich angesteckt hat, wird sofort behandelt. So sinkt die Viruslast in Blut und Körperflüssigkeiten bald unter die Nachweisgrenze. Das wiederum schützt die Partner.

Wenn es nach UNAids geht, sollen bis 2020 rund drei Millionen Menschen Zugang zu Prep haben. Damit tun sich selbst die Industrienationen schwer. In den USA zum Beispiel übernehmen viele Versicherungen die Kosten nur teilweise. In Australien hat das Pharmaceutical Benefits Scheme es gerade abgelehnt, die Prophylaxe zu bezahlen – obwohl zum Beispiel in einem Modellversuch in Queensland die Infektionsrate um 30 Prozent gefallen war. Der Preis sei zu hoch und es sei nicht möglich, die Verordnung auf eine Hochrisikogruppe einzugrenzen, hieß es in der Begründung. In Großbritannien streitet sich der National Health Service vor Gericht, um Prep nicht finanzieren zu müssen. Forscher halten mit Studien dagegen. So hat ein Team um Narat Punyacharoesin von der London School of Hygiene & Tropical Medicine errechnet, dass man in Großbritannien bis 2020 rund 7400 Menschen die Infektion ersparen könnte, wenn man jedem Vierten unter den MSM (also den besonders gefährdeten Männern) Prep anbieten würde. Das wäre ein Rückgang um 44 Prozent. „Mit den bisherigen Präventionsbemühungen kommen wir nicht weiter“, schreiben sie im Fachblatt „Lancet“.

Wie die Prävention mit Truvada funktioniert

Für die Behandlung von HIV ist Truvada bereits seit 2005 zugelassen. Die Wirkstoffe Emtricitabin und Tenofovir verhindern, dass sich das Virus im Körper vermehren kann. Nehmen Gesunde die blaue Pille, bekommt HIV keine Gelegenheit, sich überhaupt in den Zellen einzunisten. Ähnlich wie Kondome ist diese Prävention zwar nicht 100-prozentig sicher. Doch wenn das Mittel jeden Tag geschluckt wird, ist der Wirkstoffpegel im Blut in den meisten Fällen ausreichend. Jessen ist zuversichtlich, dass sich die meisten daran halten werden: „Wer jetzt freiwillig zum Arzt geht und sich eine Prep holt, ist motiviert.“

Dennoch sind die Pillen nur Teil eines Pakets. Die Ärzte müssen umfassend beraten und ihre Patienten alle drei Monate auf HIV und andere Geschlechtskrankheiten testen. Die Zulassung sieht vor, dass die Männer trotzdem Kondome verwenden sollten. „Schließlich gibt es noch Syphilis und Gonorrhoe“, sagt Bartmeyer. Und Gonorrhoe sei immer öfter resistent gegen Antibiotika.

Kein Mittel ohne Nebenwirkungen

„Man muss sich bewusst sein, dass mit einem Medikament Nebenwirkungen verbunden sind“, sagt Barbara Bartmeyer. So könnten auf Dauer die Nieren geschädigt werden oder die Knochendichte abnehmen. Dann muss die Prep abgebrochen werden. Jeder Fünfte klagt über leichte Nebenwirkungen wie Durchfall, Übelkeit, Müdigkeit, Kopfschmerzen und Schwindel, schreibt die Europäische Arzneimittelagentur. Sie verschwinden meist nach den ersten Wochen.

Prep ist nicht für jeden sinnvoll

Für 99 Prozent der Bevölkerung sei Truvada nichts, sagt Armin Schafberger, Abteilungsleiter Medizin bei der Deutschen Aids-Hilfe. Auch unter Männern, die Sex mit Männern haben, sei die Begeisterung für das Mittel nicht gerade überwältigend. Die Deutsche Aids-Gesellschaft hat derweil vorläufige Kriterien für die Verordnung festgelegt. Zunächst müsse sicher ausgeschlossen werden, dass derjenige nicht bereits infiziert ist. Sonst riskiere man, dass sich Resistenzen gegen ein wichtiges HIV-Medikament bilden. Als Gruppe mit erhöhtem Infektionsrisiko definiert die Fachgesellschaft MSM und Transgender-Frauen, die in den letzten drei bis sechs Monaten mit mehr als zwei Partnern Sex ohne Kondom hatten oder bei denen im letzten Jahr eine Geschlechtskrankheit diagnostiziert wurde. „Man muss auch bedenken, dass in Berlin Partydrogen wie Crystal Meth ein Thema sind“, sagt Jessen. Viele fühlten sich dann geradezu unverwundbar und verzichteten beim Sex auf Kondome.

Die Kosten und die Krankenkassen

Die tägliche Pille kostet 840 Euro im Monat, die wenigsten können das aus eigener Tasche bezahlen. „Es führt kein Weg daran vorbei, dass der Staat die Kosten übernehmen sollte“, meint Jessen. „Wollen wir überall sparen oder wollen wir Krankheiten verhindern?“ Die Preis von Truvada würde ohnehin sinken, wenn das Patent im nächsten Frühjahr ausläuft. „Erfahrungsgemäß spart man dann 20 bis 25 Prozent“, wendet Bartmeyer ein. „Prep bleibt wahrscheinlich teuer.“

Mit der Höhe der Kosten habe die Erstattung nichts zu tun, sagt Florian Lanz, Pressesprecher des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenkassen. Vielmehr sei Prep eine medizinische Vorsorgeleistung. „Wir gehen davon aus, dass die Kassen das nicht übernehmen werden.“ Mit dem Kondom gebe es eine bewährte Möglichkeit, sich vor HIV zu schützen. Das Argument, dass dem Gesundheitssystem mehr Kosten entstehen, wenn sich jemand infiziert, lässt er nicht gelten: „Wir bezahlen ja auch keinen Airbag im Auto“, sagt er. „Dabei ist der bei einem Unfall mitunter lebensrettend!“

Ob und wann der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) dazu berät, stehen noch nicht fest, ergänzt Kristine Reis, Pressesprecherin dieses Gremiums von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen in Deutschland. In der Regel seien Leistungen einschließlich Arzneimittel zur Prävention von Krankheiten nicht erstattungsfähig. Inwiefern das Sozialgesetzbuch in diesem Fall eine Ausnahme zulasse, müsse man prüfen. „Es wird knifflig“, sagt Schafberger und hofft, dass der GBA Truvada nicht kurzerhand als Lifestyle-Medikament einstuft. Ein weiterer Punkt sind die Kosten für die Tests, die bei einer Verordnung vorgeschrieben sein werden.

Prep verleitet nicht zu noch mehr Risikofreude

Prep ermutige nicht zusätzlich dazu, auf Kondome zu verzichten, schreiben Kenneth Mayer vom Fenway Institute in Boston und Chris Beyrer von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore im Fachblatt „Lancet“. „Diese These ist ein merkwürdiger Mix aus Naivität und Moralismus. Wenn Kondome konsequent benutzt würden, hätten wir nicht weltweit zwei Millionen Neuinfektionen pro Jahr.“ Die Daten einer englischen Forschergruppe bestätigen das. In der Proud-Studie wurden 544 HIV-negative MSM, die besonders oft ihre Partner wechselten und in den letzten Monaten mindestens einmal Sex ohne Kondom hatten, zufällig zwei Gruppen zugeordnet: eine bekam sofort die Prep und eine erst ein Jahr später. In der ersten Gruppe hatten sich nach 48 Wochen nur drei von etwa 275 Männern infiziert. Sie hatten sich die Tabletten lange nicht mehr abgeholt und daher wahrscheinlich gar keinen Wirkstoff im Blut. In der zweiten Gruppe waren dagegen am Ende der Pilotstudie 20 von 269 - obwohl sie beraten wurden und ihnen Kondome sowie im Notfall eine Postexpositionsprophylaxe zur Verfügung standen. Truvada hatte das relative Risiko also um 86 Prozent gesenkt. Die Häufigkeit anderer Geschlechtskrankheiten war dagegen unverändert hoch, das Risikoverhalten hatte sich also wahrscheinlich nicht durch die Prep gewandelt.

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