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Rund 2,2 Millionen Ratten soll es einer Schätzung zufolge in Berlin geben. Die Zahl ist mit Vorsicht zu genießen.
© dpa

Nervige Nager: Berlin ist ohne Ratten nicht zu haben

Von einer Plage kann keine Rede sein. Trotzdem müssen die Tiere zurückgedrängt werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ralf Nestler

Die süßen Knopfaugen – der nackte Schwanz. Ihr neugieriger Gesichtsausdruck – das abwassertriefende Fell. Ihr soziales Wesen – die Angriffe auf Menschen. Manche lieben Ratten, andere hassen sie, vermutlich die Mehrheit. Zum Aufreger taugen sie allemal, wie derzeit in Berlin wieder zu verfolgen ist.

Wer wachen Auges durch die Stadt läuft, kann sie entdecken. In Parks, auf Spielplätzen, vor dem Supermarkt sind die Nager häufiger zu sehen als noch vor Monaten. Schnell ist von einer Rattenplage die Rede. Experten wie Detlef Kadler vom Landesamt für Gesundheit und Soziales sehen das anders. Ja, durch die rege Bautätigkeit werden die Tiere von Brachflächen vertrieben, sodass sie häufiger zu sehen sind. Auch die jahreszeittypische Wanderung von den frostigen Parks in warme Heizungskeller lasse sie häufiger als früher erscheinen, sagt Kadler: „Von einer Plage sind wir aber sehr weit entfernt.“

Hemmungslose Übertreibung

Wie viele Ratten es in der Stadt gibt, weiß keiner. Etwas Aufregung gab es kürzlich durch eine überschlägige Berechnung, die die Berliner Wasserbetriebe (BWB) bereits vor einem Jahr angestellt hatten. In einer Formel wurden Besiedlungsflächen für urbane und nicht urbane Gebiete zusammengeführt und jeweils mit „Populationsgrößenmaxima der Rudel“ multipliziert. Danach leben rund 2,2 Millionen Ratten in Berlin.

Angenommen, dass die Grundlagen der Kalkulation (die einer Analyse für New York entnommen worden sind) einigermaßen zutreffend sind, muss man feststellen: Die verbreitete Faustformel „Auf jeden Bürger kommen zwei bis vier Ratten“ ist eine hemmungslose Übertreibung. Sieben bis 14 Millionen Ratten müssten dann in der Stadt leben. Das erforderte riesige Rudel und ein extrem reiches Futterangebot.

Die Infektionsgefahr ist heute viel geringer

Und selbst der Wert von 2,2 Millionen ist mit Vorsicht zu genießen. Es ist eine grobe Schätzung, die von „rattenfreundlichen“ Annahmen ausgeht, wie aus dem BWB-Papier hervorgeht. In der Realität könnten es weniger sein, aber auch mehr. Mit dieser Unsicherheit müssen wir leben.

Sicher ist: Los werden wir die Tiere ohnehin nicht. Wir bieten ihnen unwillkürlich Futter und Schutz, sodass sie in unseren Siedlungen ihre ökologischen Nischen finden. Und diese auch besetzen, die Natur kennt keine Leerstellen.

Zurückdrängen lautet das Gebot, weil Ratten Krankheitserreger verbreiten können. Das hängt mit ihrer Lebensweise zusammen. Sie laufen über Müllplätze und schwimmen durch die Kanalisation, also Orte, wo es besonders viele Erreger oder Parasiten gibt, die im Rattenfell den Weg in die Menschenwelt finden. Glücklicherweise ist die Infektionsgefahr heute viel geringer. Die Pest, einst übertragen durch Rattenflöhe, ist aus Europa verschwunden. Und die Menschen lagern ihre Lebensmittel nicht mehr in gut erreichbaren Kammern, sondern im Kühlschrank und in festen Verpackungen. Dennoch ist die Gefahr nicht völlig gebannt, auch bei Tierseuchen sind die Nager beteiligt.

Üppiges Vogelfutter - die Ratten sind dankbar

Was hilft? Nahrung und Zuflucht verwehren. Keine Speisereste in der Toilette wegspülen, Müllplätze sauber halten, keine offenen Säcke neben die Tonnen stellen, Komposter verschließen. Und wer üppig Vogelfutter ausbringt, kann davon ausgehen, dass ihm oder ihr auch die Ratten dankbar sind. Ebenso sind Kellerfenster und Durchgänge zu verschließen.

Die Tiere sind nebenbei auch ein gutes Maß für die allgemeine Hygiene: Wer ihnen das Leben schwer macht, hat insgesamt bessere Chancen im Kampf gegen Keime.

Ist doch eine Ratte zu sehen, besteht für Hauseigentümer Meldepflicht. Alle anderen sollten ebenfalls beim Gesundheitsamt anrufen, damit eine professionelle Bekämpfung eingeleitet wird.

Tierschützer sind ungewohnt zurückhaltend

Zwei Verfahren stehen zur Wahl: Giftköder haben den Vorteil, dass sie großflächig und schnell wirken. Nachteilig ist, dass sich Giftstoffe in der Umwelt anreichern können, wenn Kadaver liegen bleiben. Die zweite Möglichkeit sind Fallen, die aber regelmäßig aufgesucht werden müssen.

Der Beschützerinstinkt, der immer wieder Menschen vor Tierversuchslabore und in Online-Petitionen lockt, ist bei der Gemeinen Kiezratte jedenfalls nicht sehr ausgeprägt. „Die Leute wollen einfach nur, dass die Ratten verschwinden“, sagt Kadler. Manche würden noch anregen, Lebendfallen zu verwenden. „Die frage ich einfach: Und wohin dann mit dem Tier?“

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