Katastrophenforschung: Bereit für den Ernstfall?
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Katastrophenforschungsstelle an der Freien Universität Berlin untersuchen die gesellschaftlichen Ursachen von Katastrophen und das menschliche Verhalten in Krisensituationen – seit mehr als 30 Jahren.
Satellitenaufnahmen geben nur eine Ahnung von den Dimensionen Hurrikans: Sie zeigen einen weißen Wirbel, der unentwegt um sich selbst kreist und sich unaufhaltsam den Karibikinseln nähert, die das Pech haben, auf seiner Zugbahn zu liegen – Barbuda, Haiti und Kuba etwa –, bevor er Florida auf dem amerikanischen Festland erreicht. 37 Stunden lang tobte sich Mitte September der Hurrikan Irma mit einer Windgeschwindigkeit von 295 Kilometern pro Stunde über den Inseln und Küstenregionen aus.
Damit hat er Geschichte geschrieben. Irma war der stärkste atlantische Hurrikan, der sich außerhalb des Golfs von Mexiko und der Karibik gebildet hat, seit Beginn der Aufzeichnungen des National Hurricane Centers in Miami, Florida. Er hinterließ eine Spur der Verwüstung: zerstörte Häuser, abgedeckte Dächer, überschwemmte Straßen. Es gab Dutzende Verletzte, mindestens 70 Menschen starben. Die Strom- und Wasserversorgung vieler Haushalte war tagelang unterbrochen. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine einzige Katastrophe.
Extreme Wetterereignisse beherrschen immer wieder die Nachrichten. Auch in Deutschland gab es im Sommer dieses Jahres starke Regenfälle, die Straßen und Keller unter Wasser setzten. Besonders schwere Schäden verursachten die Elbe-Hochwasser von 2013 und 2002, die die Menschen in den betroffenen Regionen wochenlang in Atem hielten.
„Für Soziologen wird ein Ereignis dann zur Katastrophe, wenn es die Menschen innerlich grundlegend erschüttert“, sagt Professor Martin Voss. Der Soziologe leitet die Katastrophenforschungsstelle (KFS) am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Voss und sein Team haben die Nachwirkungen der Elbe-Hochwasser auf die Betroffenen untersucht. „Wir fanden heraus, dass die Menschen dort nach wie vor stark leiden“, sagt er. „Sie sind wirklich traumatisiert. Und das nicht nur, weil sie materielle Verluste erlitten haben, sondern weil diese Menschen in eine für sie schwierige soziale Lage geraten sind.“
Gearbeitet wir auch an einem besseren Warnsystem für Extremwetterlagen
In einem aktuellen Forschungsprojekt vergleichen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Umgang mit dem Hochwasser und seinen Folgen hierzulande mit einer ähnlichen Situation im indischen Mumbai. Ein weiteres Projekt hat zum Ziel, gemeinsam mit dem Deutschen Wetterdienst (DWD), dem Institut für Meteorologie der Freien Universität Berlin und weiteren Forschungspartnern ein verbessertes Warnsystem für Extremwetterereignisse zu entwickeln, durch das die Bevölkerung sowie Hilfsorganisationen und andere Einrichtungen frühzeitig gezielter über drohende Gefahren und konkrete Handlungsmöglichkeiten informiert werden können. Geplant sind auch neue internationale Kooperationen, um zum Beispiel zu erforschen, „wie die Lebensbedingungen in einer Krisenregion so stabilisiert und verbessert werden können, dass die Menschen dort ein würdevolles Leben führen können und nicht gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen“, sagt Martin Voss.
Für ihre Forschung arbeiten die Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler national und international mit vielen verschiedenen Einrichtungen zusammen: von privaten Unternehmen bis zu Behörden, von Bürgerinitiativen bis zu Hilfsorganisationen. „Unsere Arbeit ist umfassend“, sagt Martin Voss. „Wir entwickeln sozialwissenschaftliche Theorien und betreiben Grundlagenforschung, beschäftigen uns aber auch mit den konkreten Fragen unserer Partner aus der Praxis, etwa wie Hilfsorganisationen erfolgreich eine größere Evakuierung durchführen und die Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Bedürfnissen optimal versorgt werden können.“
Die Forschungsstelle hat bereits viele Katastrophen und Krisen aus wissenschaftlicher Sicht analysiert. Ihr Vorreiter und Begründer war der Kieler Soziologe Lars Clausen: 1972 wurde er in die Schutzkommission des Bundesinnenministeriums berufen. „Lars Clausen sollte herausfinden, welchen Einfluss der Mensch auf die Entstehung, den Ablauf und die Bewältigung von Katastrophen hat, und wie man die Bevölkerung auf einen Notfall – sprich Atomkrieg – vorbereiten könne“, sagt Martin Voss. „Man wollte wissen, wie die Menschen sich verhalten würden und was man tun müsse, um mit der Situation zurechtzukommen.“ Was aus heutiger Sicht ein wenig zynisch klingt, war vor 45 Jahren ein reales Szenario. „Lars Clausen entwickelte aus diesem Auftrag die theoretische Fragestellung: Was kann dazu führen, dass eine Gesellschaft überhaupt nicht mehr funktioniert? Das war der Beginn der soziologischen Katastrophentheorie.“
Die Wahrnehmung von Katastrophen hat sich verändert
Es folgten weitere Forschungsaufträge, darunter die Aufarbeitung der Schneekatastrophe, die Norddeutschland im Winter 1978/79 lahmlegte. Schließlich gründete Lars Clausen 1987 die Katastrophenforschungsstelle an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, zusammen mit seinem Assistenten und dem späteren Leiter der KFS, Wolf Dombrowsky. Es war eine Zeit, in der schwere Krisen allgegenwärtig waren: „Das Jahr 1986 ist ein Meilenstein in der Katastrophenforschung, mit dem Unglück des Challenger-Space-Shuttles und natürlich mit Tschernobyl“, sagt Martin Voss. „Die Umweltbewegung war ein großes Thema, ebenso wie die atomare Bedrohung. Dazu die Hungerkatastrophen in Afrika. Insgesamt war da ganz viel Bewegung in dem Thema.“
Martin Voss selbst promovierte bei Lars Clausen und kam 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Katastrophenforschungsstelle. Seit 2011 ist er ihr Leiter. Drei Jahre später wechselte die Forschungsstelle an die Freie Universität Berlin, wo sie in diesem Jahr ihr 30-jähriges Jubiläum feiert.
Die Wahrnehmung von Katastrophen habe sich im Laufe der Zeit verändert, sagt Martin Voss: „Durch die Globalisierung, die Berichterstattung in den Medien und die sozialen Netzwerke sind wir bei einer Katastrophe wie dem Hurrikan Irma quasi in Echtzeit dabei, obwohl wir Tausende Kilometer weit entfernt und in Sicherheit sind.“ Das habe Auswirkungen auf die Politik und das Weltgeschehen, aber auch auf das Empfinden jedes Einzelnen. „Das, was uns im Innersten verunsichert, ist nicht mehr allein, dass Menschen ihr Dach über dem Kopf verloren haben“, sagt Martin Voss. „Es ist das Gefühl, dass die Zukunft nicht mehr so sicher erscheint.“
Im Zentrum der Arbeiten steht die Ursachenbekämpfung von Krisen und Katastrophen, von menschlichem Leid. Aber auch, wie sich Menschen angesichts andauernder Unsicherheit verhalten. Welche Strategien könnten ihnen helfen? Genau das wollen Martin Voss und seine 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der Katastrophenforschungsstelle mit ihrer Arbeit herausfinden. „Wir wollen aufzeigen, welche gesellschaftlichen Prozesse Menschen in Not bringen, den Menschen aber zugleich Werkzeuge an die Hand geben, um mit einer Krisensituation besser klarzukommen, sodass sie für sie etwas von ihrem Schrecken verliert und die Rückkehr zur Normalität erleichtert wird.“
Menschen in Krisen rücken zusammen
Das Bewusstsein für mögliche Krisen spiele hier eine wesentliche Rolle. Man müsse sich damit arrangieren, dass es weiterhin Katastrophen geben werde, sagt Martin Voss. „Alles was mit der Natur zu tun hat, haben wir eigentlich schon ganz gut im Griff.“ Schwieriger sei es seiner Meinung nach, dem Unbekannten entgegenzutreten. „Welche Arten von Katastrophen in Zukunft auf uns zukommen werden, wissen wir natürlich nicht genau. Aber wir müssen stärker darüber nachdenken, um auch auf das Unwahrscheinliche vorbereitet zu sein, den sogenannten ‚Schwarzen Schwan’ – also sehr seltene Ereignisse, die vielleicht nur alle 500 oder 1000 Jahre einmal auftreten. Es gibt eine ganze Reihe davon, etwa eine große Pandemie oder ein globaler Crash der Finanzmärkte.“
Die Katastrophe von Fukushima lasse erahnen, dass wir zukünftig immer stärker mit Ereignissen konfrontiert würden, die ganz offensichtlich auf gesellschaftliche oder politische Entscheidungen zurückgeführt werden können.
Ebenso unberechenbar sei, wie sich das menschliche Miteinander in einer Krise entwickelt. „Wir können uns nicht darauf verlassen, dass andere sich dann so verhalten, wie wir es gewöhnt sind“, sagt Martin Voss, „wobei aber bisherige Ereignisse gezeigt haben, dass Menschen in Krisen und Katastrophen zusammenrücken und sich gegenseitig unterstützen.“
Auch hier lässt sich etwas tun: Die Bevölkerung sollte sich nicht nur materiell auf den Ernstfall vorbereiten, zum Beispiel durch das Anlegen von Essens- und Trinkvorräten, sagt der Wissenschaftler: „Mindestens genauso wichtig sind unsere sozialen Kontakte. Denn im Notfall ist es immer besser, Teil einer solidarischen Gemeinschaft zu sein.“ Das hat sich auch beim Hurrikan Irma gezeigt. Ohne Nachbarschaftshilfe wäre die Zahl der Opfer vermutlich deutlich höher ausgefallen.
Mehr im Internet: www.polsoz.fu-berlin.de/kfs
Verena Blindow