Fehlende Nachrichtenkompetenz: Bei Fake News sind die Schulen hilflos
Eine Studie zeigt: Im Unterricht ist die Vermittlung von Nachrichtenkompetenz bislang kaum vorgesehen. Auch soziale Netzwerke spielen als Thema praktisch keine Rolle.
Ein Vorschlag zur Bekämpfung von Fake News leuchtet unmittelbar ein – ja, er findet überall, auf lokaler wie transnationaler Ebene, Zustimmung: „Berlin braucht mehr digitale Bildung“, hieß es etwa kürzlich im Tagesspiegel, und selbst das EU-Parlament ist mit einer Resolution auf den fahrenden Zug aufgesprungen.
Mehr „Bullshiterkennungskompetenz“ hat auch der Publizist Milsocz Matuschek gefordert. Dazu gehören Versuche, Nutzern online beizubringen, welche Fragen sie zur Überprüfungsrecherche an Nachrichten zu stellen hätten, obwohl wir doch inzwischen wissen, dass selbst für Profi-Journalisten genau diese Prüfkompetenz immer mehr zur Herausforderung wird. Der Crashkurs zum Nulltarif: Solche Bildungsangebote könnten ihre Tücken haben. Weil derjenige, der sie nutzt und verinnerlicht, womöglich glaubt, von nun an im Desinformations-Dschungel auf eigene Faust klarzukommen.
Experten fordern mehr Medienkunde an Schulen
Völlig zu Recht fordern viele Experten mehr Medienkunde an Schulen. Das allerdings ist leichter gesagt als getan. Die Dresdner Kommunikationswissenschafler Lutz M. Hagen, Rebecca Renatus und Anja Obermüller haben im Auftrag der deutschen Stiftervereinigung der Presse ermittelt, wie es um die „Nachrichtenkompetenz an Schulen“ bestellt ist. Sie haben Erschreckendes zutage gefördert.
Schon eine erste Dokumentenanalyse auf der obersten Ebene, der Kultusministerkonferenz (KMK), ergab weithin Fehlanzeige. Die KMK ist im föderalistischen System dafür zuständig, ein Minimum an Vereinheitlichung der Lehrangebote durchzusetzen. Die Forscher haben herausgefunden, Medienkompetenz sei zwar als Zielvorgabe in verschiedenen KMK-Papieren „umfassend verankert“, aber die Förderung von Nachrichtenkompetenz spiele „nur eine untergeordnete Rolle“. Meist gehe es um den vermehrten Einsatz digitaler Technologie im Unterricht statt um die Vermittlung von mehr Kompetenz im Umgang mit Nachrichten und Fake News. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine zweite Teilstudie der Dresdner Wissenschaftler, welche Dokumente zur Lehrerbildung unter die Lupe nahm.
207 Lehrpläne wurden untersucht
Sodann haben Hagen und sein Team insgesamt 207 Lehrpläne für den Deutsch-, Sozialkunde-, Ethik- und Geschichtsunterricht genauer analysiert. Auch dort fanden sich nur wenige Vorgaben zur Nachrichtenkompetenz: Vergleichsweise stark thematisiert wird das Thema in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Saarland, vergleichsweise wenig dagegen in Bayern, Bremen und Baden Württemberg. Das ist auch deshalb ein spannendes Ergebnis, weil sich das Ranking „weder durch die politische Couleur der Landesregierungen noch durch die Größe der Bundesländer erklären“ lässt, so die Forscher.
Spannend und verstörend ist nicht zuletzt, dass nur drei Prozent der Lehrpläne Aussagen zu den sozialen Netzwerken enthalten: Facebook und Twitter sind also als Nachrichtenmedien in den Unterrichtsvorgaben derzeit inexistent. Dabei wissen wir längst, dass sich ein großer und von Jahr zu Jahr steigender Anteil der Schüler genau dort mit Nachrichten versorgt.
Es geht selten darum, Schülern die Aufgabe der Presse nahezubringen
Ähnlich sieht es auch bei den 361 Schulbüchern aus, welche die Dresdner Forscher untersuchten. Sie mussten sich hierbei auf drei Bundesländer beschränken – je ein Flächenstaat in Ost- und Westdeutschland sowie ein Stadtstaat (Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Berlin). Nur die Hälfte von ihnen widmet der Nachrichtenkompetenz überhaupt Aufmerksamkeit. Wenn das Thema angeschnitten wird, geht es jedenfalls nicht darum, ein Grundverständnis des Mediensystems und des Journalismus zu entwickeln und etwa den Schülern die öffentliche Aufgabe der Presse nahezubringen.
Für alle, die sich noch aus ihrer eigenen Schulzeit an engagierte Lehrerinnen und Lehrer erinnern, bleibt freilich ein Hoffnungsschimmer. Die Dresdner Forscher befragten auch 83 Lehramtsstudierende, die kurz vor dem Studienabschluss stehen. Sie stuften nahezu ausnahmslos Nachrichtenkompetenz als sehr wichtiges Lernziel und Thema des Schulunterrichts ein. Solch hohe Motivation nützt allerdings wenig, wenn die Absolventen selbst nicht über das nötige Wissen verfügen. Die Wissenschaftler fühlten ihnen auf den Zahn und fanden heraus, dass sie das Mediennutzungsverhalten von Schülern völlig falsch einschätzten. Ebenso waren sie erstaunlich ahnungslos, als sie nach den Aufgaben von Journalisten oder nach der Rolle von Nachrichtenmedien in der Demokratie gefragt wurden oder Profi-Journalisten von Bloggern und „Bürgerjournalisten“ abgrenzen sollten. Auch das seien „blinde Flecken“, kritisiert Hagen.
Der Autor ist Professor für Journalismus und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano (Schweiz). Von ihm erscheint im Oktober „Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung die Demokratie bedroht“ (Herbert von Halem Verlag).
Stephan Russ-Mohl
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