Position: Bei Chanchengerechtigkeit unterschlägt der Bund einiges
Der wissenschaftliche Nachwuchs in Deutschland sollte auch nach den Problemen mit sozialer Herkunft und den Abbruchquoten befragt werden.
Kürzlich stellte das Bundeswissenschaftsministerium den aktuellen Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (BuWiN 2021) vor (der Tagesspiegel berichtete). Dass das Ministerium zu einem eher positiven Fazit kommt, verwundert nicht – es ist Wahljahr. Auch die mit insgesamt 92 Prozent anhaltend extrem hohe Befristungsquote war absehbar. Dass der BuWiN lediglich in einer Fußnote erwähnt, dass die Befristungsquote noch 2005 „nur“ 86 Prozent betrug, nun ja: Dies war der Zeitpunkt, kurz bevor das Wissenschaftszeitvertragsgesetz 2007 mit dem Ziel eingeführt wurde, die berüchtigten „Kettenverträge“ für den „Nachwuchs“ zu vermindern. Aber wer erinnert sich noch daran?
Zur Chancengerechtigkeit kaum Zahlen
Doch angesichts des für die öffentliche Präsentation gewählten Themas „Chancengerechtigkeit“ ist erstaunlich, worauf der BuWiN ebenfalls so gut wie nicht eingeht: Denn über das Merkmal Geschlecht hinaus (d.h. Geschlechtergerechtigkeit), gibt es dazu kaum Zahlen – bezogen auf soziale Herkunft (und hier vor allem Nichtakademikerkinder), Herkunft aus dem Ausland (auch ein Maß für Internationalität) sowie Menschen mit Behinderung.
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Immerhin hat BuWiN-Beiratsvorsitzende Karl Ulrich Mayer vor der Presse darauf hingewiesen, der Grad der Internationalisierung sei „niedrig“. Doch zur sozialen Herkunft finden sich im BuWiN 2021 nur sehr wenige, eher vage Aussagen.
Dies gilt trotz (oder wegen?) des Vorliegens mehrerer aktueller Studien mit sehr ernüchternden Ergebnissen: So kommt eine Studie zu Juniorprofessuren von Zimmer zum Ergebnis, dass für die Berufung auf eine unbefristete Professur „soziales Kapital“ (Bourdieu) ein starker Einflussfaktor ist, und nicht etwa „wissenschaftliches Kapital“ (wie Zeitschriftenartikel mit Peer Review, Drittmittelprojekte oder Konferenzbeiträge). Nach einer anderen Studie zu Berufungschancen ist der Zugang zur Professur insgesamt nach über mehrere Jahrzehnte vergleichbaren Ergebnissen sogar so sozial selektiv wie noch nie in den letzten 50 Jahren. Hierbei ist die Chance von Akademikerkindern demnach aktuell vierfach höher. Damit summiert sich die Chancenungerechtigkeit für Nichtakademiker-Frauen noch weit stärker als allein durch die Geschlechterungerechtigkeit. Eine solche in der Forschung keineswegs neue Betrachtungsweise mehrerer Merkmale zugleich (auch als Intersektionalität bezeichnet), findet man im BuWiN nicht.
Starke soziale Selektivität im deutschen Hochschulsystem
Die starke soziale Selektivität ist im deutschen Hochschulsystem auch nicht auf den Zugang zur Professur beschränkt, wenngleich für das Studium in den letzten Jahrzehnten eine gewisse soziale Öffnung festzustellen war. Vielmehr zieht sich die soziale Imbalance in unterschiedlicher Ausprägung durch alle Qualifikationsstufen des deutschen Bildungs- und Hochschulsystems. Dies zeigte zuletzt der Hochschul-Bildungs-Report 2017/18 des Stifterverbandes. Danach hat ein Akademikerkind von der Grundschule an über alle Qualifikationsstufen hinweg gesehen etwa dreimal so hohe Chancen auf einen Bachelor und sogar zehnmal so hohe Chancen eine Promotion abzuschließen, wie ein Nichtakademikerkind.
Dies erfordert mindestens solche Aufmerksamkeit wie das Merkmal Geschlecht. Hier ist also nicht nur für die Situation der (Nachwuchs-)Forschenden, sondern auch für künftige BuWiN trotz einzelner (vor allem methodischer) Verbesserungen noch deutliches Potenzial – um es milde auszudrücken.
Daher fordert das bundesweite (Nachwuchs-)Forschenden-Netzwerk THESIS die Schaffung transparenter und berechenbarer Karrierewege für Nachwuchsforschende insgesamt, inklusive Entfristungsmöglichkeiten nach der Promotion etwa durch Schaffung von Tenure- Track-Verfahren generell für Promovierte in der Wissenschaft – und nicht nur für bislang jährlich rund 100 Tenure-Track-Professuren in Deutschland. Zweitens fordern wir die Stärkung der wissenschaftlichen Unabhängigkeit von Nachwuchsforschenden – schrittweise bereits ab Beginn der Promotion verbunden mit transparenten Leistungsanforderungen (auch damit sich künftig nicht mehr die Mehrheit der Nachwuchsforschenden gegen eine Karriere in der akademischen Wissenschaft entscheidet).
„Corona“-Vertragsverlängerung als Rechtsanspruch
Außerdem fordert THESIS eine „Corona“-Vertragsverlängerung als Rechtsanspruch der (Nachwuchs-)Forschenden, denn sie liegt bisher im Ermessen der einzelnen Wissenschaftseinrichtung.
Für die künftige BuWiN-Berichte erscheint uns wichtig, die Promotionsabbruchquote differenziert auszuweisen, zumindest nach Fächern und Geschlecht (und möglichst nach internationale sowie sozialer Herkunft). Außerdem muss künftig – ebenso differenziert – die Berufungswahrscheinlichkeit von entsprechend qualifizierten Promovierten ausgewiesen werden.
Der Autor ist promovierter Soziologe, Mitglied im THESIS-Bundesausschuss, Mitautor des ersten BuWiN (2008) und Mitarbeiter der Stabsstelle Qualitätsmanagement der Humboldt-Universität.
René Krempkow
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