17. Juni 1953: Aufstand der Machtlosen
Sie forderten freie Wahlen und die deutsche Einheit: Der DDR-Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 ist eines der stolzesten Kapitel deutscher Geschichte - obwohl er weder ein Konzept noch eine Führung hatte.
In zwei Wochen soll die Freifläche vor dem Bundesfinanzministerium an der Ecke Leipziger und Wilhelmstraße als „Platz des Volksaufstandes von 1953“ benannt werden. 60 Jahre nach den Protesten, die mit dem Zug zehntausender Demonstranten zum damaligen „Haus der Ministerien“ der DDR ihren Höhepunkt und zugleich ihr Ende fanden, wird eine Lücke im geschichtspolitischen Bild der deutschen Hauptstadt geschlossen. Hier war es, wo die Demonstranten zunächst die Rücknahme der kräftig erhöhten Arbeitsnormen und dann freie Wahlen und die deutsche Einheit forderten.
Wie ist der Arbeiter- oder Volksaufstand aus heutiger Sicht zu bewerten? Bei einem Berliner Symposium zum Thema „Das historische Gedächtnis und der 17. Juni 1953“ am vergangenen Freitag verbeugte sich der streitbare Historiker Arnulf Baring, Urheber des Wortes „Arbeiteraufstand“ in seinem 1965 erschienenen Standardwerk „Der 17. Juni 1953“, vor dem „verehrungswürdigen Mut der Ostdeutschen“. Ohne die Arbeiter des „Prestigeprojekts des Regimes, der Stalin-Allee“, wäre der Aufstand nicht möglich gewesen, wenngleich sich beim Zug von den Fabriken in die Stadtzentren immer mehr Bürgerliche anschlossen, die vom „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ besonders hart getroffen wurden.
Der Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs“ von 1989 und spätere Volkskammer- und Bundestagsabgeordnete Günter Nooke nannte den 17. Juni „einen großen Tag der deutschen Geschichte“. Der seit 20 Jahren in Chemnitz lehrende Historiker Eckhard Jesse aber brachte die Rezeptionsgeschichte des Aufstandes auf den Punkt: „Erst durch den 9. November 1989 ist der 17. Juni aufgewertet worden.“
In der DDR galt er zunächst als „faschistischer“, dann als „konterrevolutionärer Putsch“, doch auch die Bürgerrechtler hatten mit den Forderungen von 1953 nichts im Sinn. Sie wünschten sich die Verbesserung der Zustände in der DDR, nicht deren Beseitigung. Die junge Bundesrepublik vereinnahmte den Aufstand für sich – wobei die Ausrufung des 17. Juni zum „Tag der Deutschen Einheit“ von der SPD ausging – und sah lediglich den antikommunistischen Impuls. Erst 1989 entließ den Volksaufstand aus der ideologischen Blockkonfrontation.
Der Historiker in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde, Roger Engelmann, stellte in einem dichten Vortrag den Stand der Forschung zum 17. Juni dar. Die Vorgeschichte von Lebensmittelkrise, Repressionen gegen den Mittelstand, forcierter Aufrüstung, Verschärfung des Strafrechts mit Zuchthausstrafen bereits für Bagatellfälle sowie schließlich den streikauslösenden Normerhöhungen zeigt das Versagen der SED.
Die Sowjetarmee hat den Aufstand nicht "niedergewalzt"
Wissenschaftlich gesehen seien die Ereignisse rund um den 17. Juni „ausgeforscht“, darin waren sich die Referenten des Symposiums einig. Zur 50-Jahr-Feier 2003 habe es eine wahre Flut von Veröffentlichungen gegeben, Neues sei seither kaum hinzugekommen. Doch die Interpretationsspielräume, die der Zeitpunkt des Aufstandes eröffnet, sind noch nicht vollständig ausgelotet. Eben noch hatte die SED die Anweisungen Moskaus zum „Aufbau des Sozialismus“ auszuführen. Auf Stalins Tod im März 1953 aber folgte ein dramatischer, von Ulbricht verkannter Umbruch der sowjetischen Politik.
Engelmann urteilte pointiert, das Vorgehen der Roten Armee, im Westen als „Niederwalzens“ des Aufstandes verurteilt, sei „in erstaunlichem Maße von Vorsicht geprägt“ gewesen. Auch die Repressionen der DDR bis zur Wiederherstellung des arg angeschlagenen Machtapparats müssen „nach DDR-Maßstäben als milde bezeichnet werden“. Nicht Hunderte von Toten gab es, wie im Westen herumgeisterte, sondern rund 40 – der Ungarnaufstand 1956 forderte dagegen 3000 Tote.
Zudem kreuzte sich die strafrechtliche Verfolgung der Aufständischen mit der bereits vor dem 17. Juni von der SED verkündeten Amnestie, die 24 000 Häftlingen zugute kam. Auch dies erfolgte auf Anweisung der Sowjetspitze – nur dass die inzwischen gewechselt hatte und den nach Moskau zitierten Genossen, an der Spitze Ulbricht und Grotewohl, eine „fehlerhafte politische Linie“ vorwarf. Die DDR-Bürger verstanden das zu Recht als Bankrotterklärung der SED.
International spielte der 17. Juni nie die große Rolle wie etwa Ungarn 1956, betonten die aus Polen, Ungarn und der Ukraine stammenden, weiteren Referenten. Das lag an der besonderen Situation des Satrapenstaates DDR wie an der Teilung des bis 1945 – nur acht Jahre vor 1953! – NS-beherrschten Deutschland.
Um so höher ist einzuschätzen, dass sich die Demonstranten in den 700 inzwischen benannten Städten und Gemeinden der DDR gegen die Zwangsherrschaft erhoben, ohne reale Aussicht auf Erfüllung ihrer Forderungen, allerdings auch ohne Konzept und Führung. Der Bonner Politologe Tilman Mayer nannte den Aufstand schlicht eine „Entladung“ infolge beständig anwachsender Spannungen, als Beispiel für die „permanente Form von Renitenz in Herrschaftssystemen sowjetischen Typs“ bis hin zu 1989.
Da zerfiel der sowjetische Block, und der Blick wurde frei auf den deutschen Aufstand. Er schlug fehl und legte doch den Keim für den Untergang der DDR. Mit seinen Forderungen nach Freiheit und Demokratie bildet er eines der stolzesten Kapitel der deutschen Geschichte.
Bernhard Schulz
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