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„Das Gastmahl der Familie Mosse“ (1899) von Anton von Werner nahm als fünf Meter breites Gemälde eine ganze Wand im Mosse-Palais ein. Es ist verschollen; die kleinere Ölskizze hängt im Jüdischen Museum Berlin. Sie ist restituiert.
© Jens Ziehe (Ankauf aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin)

Provenienzforschung: Auf der Suche nach der verlorenen Kunst

Die Provenienzforscherin Meike Hoffmann rekonstruiert mit Experten und Studierenden die während der NS-Zeit zerschlagene Kunstsammlung des Berliner Verlegers und Mäzens Rudolf Mosse.

Es klingt nach Detektivarbeit im großen Stil: Wie findet man mehrere tausend Kunstwerke, die seit 73 Jahren verschollen sind? Wie sucht man nach der Sammlung, die den Erben eines der einflussreichsten Männer im Kaiserreich und der frühen Weimarer Republik, dem Verleger und Mäzen Rudolf Mosse, von den Nationalsozialisten entwendet wurden? Zum Teil zwangsversteigert in Auktionen, zum Teil privat verkauft, der Rest in alle Winde verstreut. Wie findet man nicht nur eine, sondern tausende Stecknadeln in unzähligen Heuhaufen?

Medienzar im Kaiserreich und der frühen Weimarer Republik: Rudolf Mosse, 1843-1920
Medienzar im Kaiserreich und der frühen Weimarer Republik: Rudolf Mosse, 1843-1920
© picture-alliance / akg-images

Meike Hoffmann, promovierte Kunsthistorikerin der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ der Freien Universität, ist in der Provenienzforschung zu Hause. Die Untersuchung von enteigneter Kunst, die Rekonstruktion der Wege, die ein Kunstwerk seit seiner Beschlagnahmung durch die Nationalsozialisten genommen hat, ist ihr tägliches Geschäft. Normalerweise werden Provenienzforscher in Deutschland damit beauftragt, die Herkunft von Werken aus dem Bestand eines Museums oder einer privaten Sammlung zu prüfen. So wie vor einigen Jahren bei Cornelius Gurlitt – Sohn des zur NS-Zeit als Kunsthändler tätigen Hildebrand Gurlitt –, dessen Sammlung 2012 in München aufgetaucht ist. Meike Hoffmann war bei der Recherche von Anfang an dabei.

Diesmal, bei Mosse, liegt der Fall jedoch anders. Hier sind die Werke, die untersucht werden sollen, verschollen – so wie das anfangs auch bei der Forschung zu der 1937 als „entartet“ eingestuften und aus den Museen verbannten Kunst der Fall war. Das bedeutet, dass die Mosse-Sammlung erst einmal rekonstruiert werden muss, bevor es überhaupt darum gehen kann, die verschlungenen Wege der Werke bis zu ihren heutigen Standorten nachzuzeichnen.

Die erste öffentlich-private Partnerschaft in der Provenienzforschung

Um diese Mammutaufgabe zu bewältigen, wurde kürzlich ein Forschungsprojekt gestartet, das am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität angesiedelt ist und von Meike Hoffmann koordiniert wird: MARI – die Mosse Art Research Initiative. Die Kooperation von Freier Universität und den in den USA lebenden Erben Rudolf Mosses ist die erste öffentlich-private Partnerschaft dieser Art in der Provenienzforschung. Finanziert wird das Projekt vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste und den Erben: Beide Seiten beteiligen sich an dem Vorhaben zwei Jahre lang mit insgesamt einer knappen halben Million Euro. Weitere Kooperationspartner sind die Kulturstiftung der Länder, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Darmstädter Mathildenhöhe, die Kunsthalle in Karlsruhe und andere Museen. MARI wird deshalb als Modell bezeichnet. Und als Glücksfall: Während sich Museen und Erben – oder deren Anwälte – oft als gegnerische Parteien gegenüberstehen, wollen hier alle an einem Strang ziehen.

Der steinerne Löwe von August Gaul (1903) ist ebenfalls restituiert.
Der steinerne Löwe von August Gaul (1903) ist ebenfalls restituiert.
© Staatliche Museen zu Berlin

Rudolf Mosses Kunstsammlung war eine der größten Privatkollektionen ihrer Zeit. Dem Verleger des legendären bürgerlich-liberalen „Berliner Tageblatts“ und zahlreicher weiterer Zeitungen und Zeitschriften war ein rasanter Aufstieg gelungen: Nach einer Lehre als Buchhändler machte er sich als Anzeigenvermittler selbstständig und baute in wenigen Jahren ein mächtiges Firmenimperium auf; das fünfstöckige Druck- und Verlagsgebäude an der Jerusalemer Straße / Ecke Schützenstraße in Berlin-Mitte war – und ist – ein steinernes Zeichen seines Erfolgs. Um 1900 gehörte Mosse zu den wichtigsten Persönlichkeiten Berlins und war einer der drei reichsten Männer der Stadt. Als Mäzen förderte er karitative Einrichtungen: Er gründete mit seiner Frau die Emilie-Rudolf-Mosse-Stiftung, die in Wilmersdorf ein Jugendheim für 100 Kinder errichtete, er spendete für den Berliner Asyl-Verein für Obdachlose, er engagierte sich in der jüdischen Reformgemeinde, er förderte Künstler – und erwarb Kunst.

Die Familie wohnte am Leipziger Platz: Dort hatte der Patriarch zu Beginn der 1880er Jahre eine Stadtvilla erbauen lassen, das Mosse-Palais. Was der Kunstliebhaber bis zu seinem Tod 1920 zusammengetragen hatte, schmückte seinen Landsitz Schloss Schenkendorf in Brandenburg und das Berliner Palais, das er auch für Besucher öffnete: Auf drei Etagen und in 20 Sälen waren Skulpturen, Plastiken, Gemälde und Gobelins, Kunsthandwerk und Porzellan, Möbel und Textilien, ägyptische Altertümer, Benin-Bronzen und Ostasiatika ausgestellt sowie wertvolle Handschriften und seltene Bücher. Insgesamt etwa 4000 Werke von unbekannten und berühmten Künstlern, unter ihnen Adolph Menzel, Wilhelm Leibl und Anselm Feuerbach.

Adoptivtochter Felicia musste 1933 in die USA fliehen

1920 starb Rudolf Mosse, vier Jahre später seine Frau. Das Vermögen erbte die gemeinsame Adoptivtochter Felicia. 1933 musste sie mit ihrem Mann Hans Lachmann-Mosse und den drei Kindern vor den Nationalsozialisten fliehen, zunächst in die Schweiz, dann über Frankreich in die USA. Hans Lachmann-Mosse hatte das Familienimperium nach dem Tod seines Schwiegervaters weitergeführt. Das durch die Weltwirtschaftskrise stark angeschlagene Unternehmen wurde schließlich von den Nazis liquidiert, die zurückgelassenen Besitztümer, so auch die Kunstsammlung, unter eine reichseigene Treuhandverwaltung gestellt und versteigert.

An diesem Punkt setzt MARI an. Die wichtigsten Quellen für die Rekonstruktion der Sammlung sind bisher die Sammlungskataloge: Einen aus dem Jahr 1908 hatte Rudolf Mosse selbst herausgegeben, spätere stammen von Hans Lachmann-Mosse. Außerdem sind Auktionskataloge erhalten: Im Mai und Juni 1934 waren im Mosse-Palais und in der Maßenstraße – dem früheren Wohnhaus der Lachmann-Mosses – das Mobiliar und Teile der Kunstsammlung versteigert worden. Die in den Katalogen verzeichneten Objekte hat die Erbengemeinschaft in der digitalen Lost-Art-Datenbank veröffentlicht, insgesamt sind dort mittlerweile etwa 1000 Werke aus der Sammlung verzeichnet. Weitere Quellen sind Aufzeichnungen, Tagebücher und Briefwechsel, die der Verleger mit Künstlern geführt hat. Ein reichhaltiger Fundus ist Mosses „Berliner Tageblatt“, das regelmäßig über Akademieausstellungen in Berlin und München und den Erwerb von Kunstwerken berichtete.

1903 bezog Mosse das von den Architekten Cremer & Wolffenstein geplante, später von Erich Mendelsohn neu gestaltete Verlagsgebäude in der Jerusalemer Straße / Ecke Schützenstraße. Das im Zweiten Weltkrieg teilweisezerstörte Gebäude wurde wiederaufgebaut und Mitte der1990er-Jahre als Mosse-Zentrum eröffnet.
1903 bezog Mosse das von den Architekten Cremer & Wolffenstein geplante, später von Erich Mendelsohn neu gestaltete Verlagsgebäude in der Jerusalemer Straße / Ecke Schützenstraße. Das im Zweiten Weltkrieg teilweisezerstörte Gebäude wurde wiederaufgebaut und Mitte der1990er-Jahre als Mosse-Zentrum eröffnet.
© Bernd Wannenmacher/Freie Universität Berlin

Bei der Identifizierung und Rekonstruktion der Sammlung wird Meike Hoffmann von drei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützt. Außerdem bietet sie Bachelor- und Masterseminare speziell zum Mosse-Projekt an: Lehrveranstaltungen, in denen Studierende an konkreten Beispielen das Handwerk der Provenienzforschung erlernen und auf eine mögliche Beschäftigung in diesem Bereich vorbereitet werden. Aufgabe der Studierenden im vergangenen Wintersemester war es beispielsweise, in den Auktions- und Sammlungskatalogen verzeichnete Gemälde von unbekannten Künstlern des 19. Jahrhunderts zu identifizieren. Dabei ging es zunächst darum, etwas über den jeweiligen Maler herauszufinden: Existiert eine Monografie, gibt es Ausstellungskataloge von damals und heute, haben Experten etwas über ihn veröffentlicht? Dann ging es in die Archive: Im Zentralarchiv liegen alle Akten der Berliner Staatlichen Museen, im Landesarchiv gibt es das Handelsregister, dort lassen sich Verkäufe im Kunsthandel recherchieren. Ferner können Akten der Reichskammer der Bildenden Künste Aufschluss geben – in der Kammer mussten Kunsthändler gemeldet sein –, Bau- oder Wiedergutmachungsakten. Mehrere der anfangs vollkommen unbekannten Gemälde konnten die Studierenden auf diese Weise eindeutig identifizieren, zwei sogar lokalisieren. Nun müssen die Seminarergebnisse von den professionellen Rechercheuren des Mosse-Projekts überprüft und die Verlustwege der Werke geklärt werden.

"Deutschland baut keine Mauern, sondern Brücken"

Für Roger Strauch, Stief-Urenkel von Rudolf Mosse, ist MARI ein Beispiel dafür, „dass Deutschland nicht Mauern baut, sondern Brücken“. Der US-Amerikaner, der zum offiziellen Start des Forschungsprojekts nach Berlin gereist war, vertritt die Erbengemeinschaft. Ihm geht es darum, die Erinnerung an seinen Urgroßvater und dessen gesellschaftliches Wirken wachzuhalten: „Rudolf Mosse war so prominent und mächtig, wie es heute Microsoft-Gründer Bill Gates oder Facebook-Chef Mark Zuckerberg sind“, sagt der Kalifornier. Aber es geht auch „um die Wahrheit und die daraus resultierenden Konsequenzen“: Gestohlenes müsse restituiert werden. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die den Bestand ihrer Museen aktiv auf Raubkunst untersucht, konnte bereits neun Werke ausfindig machen und der Familie zurückgeben; zwei konnte sie rückerwerben.

Über die Provenienzforschung öffne sich gerade für junge Menschen die Tür zu einem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte, sagt Meike Hoffmann, wenn sie nach den Gründen für das große Interesse ihrer Studierenden an dem Thema gefragt wird: „Es ist ein Bereich des Nationalsozialismus, zu dessen Aufklärung wir noch heute etwas beitragen können. Nicht nur für die Geschichtsschreibung, sondern ganz konkret für die Nachfahren von NS-Verfolgten“, konstatiert die Kunsthistorikerin. Roger Strauch hofft, dass die wiedergefundenen Werke irgendwann in einer Ausstellung gezeigt werden. Seine Familie habe ein grundsätzliches Interesse, die Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Was ganz im Sinne Rudolf Mosses wäre.

Christine Boldt

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