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Der Unigründer Wilhelm von Humboldt.
© bpk

Lothar Gall über Wilhelm von Humboldt: Auf der Flucht vor der Geschichte

Wilhelm von Humboldt, der Gründer der Berliner Universität, hatte Erfolg als Bildungsreformer. Politisch ist er jedoch gescheitert. So urteilt der große Historiker Lothar Gall, der am Samstag 75 Jahre alt wird, über Humboldt.

Der moderne Staat hat „in erster Linie für die Freiheit der Individuen zu sorgen“. Wilhelm von Humboldt sieht den Staat insbesondere bei jenen Institutionen gefordert, die der Weckung und Verbreitung geistig schöpferischer Kräfte dienen und damit die Kultur der Nation insgesamt fördern.

Die „Freiheit der Individuen“ ist keine wörtliche Formulierung Humboldts, sondern eine von Lothar Gall. Die gewundeneren Worte zu den Bildungseinrichtungen sind von Humboldt übernommen. Diese Art der Verdichtung und Zuspitzung bei gleichzeitiger Quellentreue ist kennzeichnend für Gall: Er will anknüpfen an die Bildungsbegeisterung seines Protagonisten. Lothar Gall, der große Historiker des Bürgertums in der Epoche seiner Herausbildung zur bestimmenden Kraft von Politik und Gesellschaft, musste im Laufe seines Schaffens als Biograf beinahe zwangsläufig auf Humboldt stoßen. Denn dieser, selbst Spross eines bürgerlichen, erst in der Generation zuvor in den Adelsstand erhobenen Elternhauses, gilt als bedeutendster Vordenker dessen, was als Bildung und Persönlichkeitsbildung den kostbarsten Besitz des Bürgers ausmacht.

Bereits 1792 beschrieb Humboldt (1767–1835) als „wahren Zweck des Menschen“ die „höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“. An die monarchische Herrschaft gerichtet, setzte er hinzu: „Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.“ Es ist nicht so sehr die politische Freiheit als vielmehr jene „Einsamkeit und Freiheit“ in der Universität, die mit Humboldts Konzeption für immer verbunden sind.

Lothar Gall. Er schrieb auch große Biographien über Bismarck und Rathenau.
Lothar Gall. Er schrieb auch große Biographien über Bismarck und Rathenau.
© promo

Lothar Gall, der am 3. Dezember seinen 75. Geburtstag feiert, hat Wilhelm von Humboldt eine Biografie mit dem Untertitel „Ein Preuße von Welt“ gewidmet. Das war, wie er im Vorwort andeutet, kein leichtes Unterfangen, sah Humboldt sich doch als eine selbstgeschaffene Persönlichkeit. Damit hat er sich jener Biografik weitgehend entzogen, die Gall an „großen Männern“ wie Bismarck, Walther Rathenau oder Hermann Josef Abs als Zusammenspiel von Person und Umständen, als Spiegelung historischer Vorgänge exemplarisch vollführt hat. Humboldt suchte die innere Souveränität derart auf die Spitze zu treiben, dass er sich dem Gang äußerer Ereignisse stets entzog, sobald sie seinem Lebensentwurf zu widersprechen drohten. Das zweimalige, abrupte Ausscheiden aus dem damals doch einzig Gestaltungsmöglichkeiten eröffnenden Staatsdienst markiert diese Brüche eines äußeren Lebensweges, dem der innere umso folgerichtiger entgegenstrebt.

Gall hat einmal über einen frühen Repräsentanten des Liberalismus gesagt, er sei Vertreter jenes Bürgertums gewesen, das „sich seiner selbst wohl bewusst ist und über die Mittel zur Selbstentfaltung verfügt“. Dieses Bürgertum mit halbfeudalem Hintergrund gab es im „langen“ 19. Jahrhundert. Zieht man den Gedanken der Selbsterziehung als konstitutiv heran, so könnte man in Max Weber einen späten Repräsentanten finden, wie beide Humboldts, auch der Naturforscher Alexander, frühe gewesen sind. Vielleicht nur auf diesem materiellen Hintergrund lässt sich Wilhelm von Humboldts Konzeption der höheren Bildung ganz verstehen, die seinen Nachruhm bis heute ausmacht.

Um Reform geht es bei Humboldt, die Reform überhaupt: die grundlegende Neuausrichtung der höheren Bildung in Preußen. Sie erfolgte 1810, zentriert um die Gründung der Berliner Universität, die seit 1949 seinen Familiennamen trägt. Mit der Universität strebte Humboldt dasjenige Zentrum an, das die in Berlin vorhandenen Einrichtungen, von der Akademie der Wissenschaften bis zum Botanischen Garten, geistig zusammenfassen sollte. Als etwas nie gänzlich Auszuschöpfendes kann Wissenschaft, und das ist ein Kerngedanke Humboldts, nicht gelehrt werden wie auf der Schule, sondern nur in der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden.

Preußens König Friedrich Wilhelm III., weder ein Mann der Tat noch des Fortschritts, hatte mit seiner Erklärung nach der vernichtenden Niederlage gegen Napoleon 1806 erkannt, der Staat müsse „durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat“. Diese Ausgangslage nutzte Wilhelm auf seinem Gebiet als Leiter der „Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts“. Die Gründung der Berliner Universität gelang quasi im letzten Augenblick. Vor allem die Berufungen von Gelehrten wie Fichte, Savigny oder Schleiermacher prägten den hohen Rang der neugeschaffenen Universität.

Doch schnell zeichnete sich Humboldts Niederlage im politischen Ränkespiel ab. Gall zeichnet das Bild eines – zumindest, was das taktische Vermögen angeht – letztlich unpolitischen Idealisten. 1810 reichte Humboldt, vordergründig aus Anlass einer protokollarischen Frage, seinen Abschied ein, wurde aber mit dem höheren Posten des Gesandten am Wiener Hof betraut. So aber war er in vollständiger Abhängigkeit vom Staatsminister, dem Regierungschef Hardenberg. Auch in Wien selbst geriet er im Verlauf des Wiener Kongresses in die Defensive. Wilhelm, der zuvor als hervorragender Diplomat belobigt wurde, kam gegen den österreichischen Fürsten Metternich nicht an. 1819 schied Humboldt endgültig aus preußischen Diensten aus. Gescheitert sei er vorrangig an Hardenberg und dessen „ausschließlich auf die Machterweiterung Preußens gerichtetem Denken“, wie Gall recht ungnädig urteilt.

Danach lebte er bis zu seinem Tod 1835 als hoch geachteter Privatgelehrter, nahm seine Studien zur Geschichte der Sprache wieder auf. Das aus dem Erbe seiner Frau Caroline stammende Schloss Tegel ließ er durch Schinkel umbauen, auch darin auf der Höhe seiner Zeit. Bedauerlich, dass Gall der Mitarbeit Humboldts an der Einrichtung des – heute „Alten“ – Museums so wenig Platz einräumt. Denn bei diesem Hauptanliegen des Bildungsbürgertums traf Humboldt Persönlichkeiten, die „schon immer zum Kreis meines Umgangs gehörten“, wie er beiläufig und doch beschwingt notiert.

Schinkel verkörperte in seiner Baukunst, was Humboldt, der glühende Freund Schillers und zeitlebens Gesprächspartner Goethes, als Ideal hochhielt. Ausgerichtet war es am antiken Griechentum „als Ideal desselben, was wir selbst sein und hervorbringen möchten“. Klassizist und Kosmopolit, die Nation als Bezugsrahmen jeglicher Entfaltung hochhaltend, doch kein Nationalist wie Fichte, verkörpert Wilhelm von Humboldt den Typus des Menschen, dem es nicht um Anhäufung von Wissen, sondern „um Charakter und Handeln zu tun“ ist.

Das liest sich bei Gall flüssig, belegt mit zahllosen Zitaten vorwiegend aus der Korrespondenz seines Protagonisten. Und doch gelingt es Gall weniger als in seinen Biografien von Bismarck oder Rathenau, den Menschen und zugleich das Beziehungsgeflecht um ihn herum lebendig und seinen Lebensweg zwingend werden zu lassen. Die gute Lesbarkeit ohne Kompromisse in der wissenschaftlichen Fundierung, die an Gall seit jeher zu bewundern ist, stößt an Grenzen. Das beeindruckende Archivstudium kann auch Gall nicht ohne Abstriche in lebendige Sprache überführen.

Politisch erscheint Humboldt bei Gall als letztlich Gescheiterter, dessen einer Triumph, die Bildungsreform, freilich derart großartig und folgenreich ausfiel, dass er alle Niederlagen zu Nebensächlichkeiten schrumpfen lässt. Zu Recht steht die minutiöse Darstellung der Windungen und Widerstände, die Humboldt in diesen entscheidenden Monaten zu meistern hatte, im Mittelpunkt des Buches. Bismarcks Wort vom „Mantel der Geschichte“, es trifft durchaus auch auf Humboldt zu. Er hat den Mantel in dem einen, einzigen Moment ergreifen können.

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