Astronaut Alexander Gerst: Auf dem Weg ins All
Im Mai fliegt Alexander Gerst zur Raumstation. Er soll Experimente in der Schwerelosigkeit machen – und für die bemannte Raumfahrt werben. Die steckt mal wieder in Schwierigkeiten.
Kaum haben sie von der Raumstation abgelegt, beginnen die Probleme. Erst schaltet das Haupttriebwerk zu früh ab, dann meldet der Bordcomputer einen Druckabfall. Wenn sie jetzt falsch reagieren, droht ihr Raumschiff unkontrolliert zur Erde zu stürzen. Dicht gedrängt sitzen die drei Männer in der engen Kapsel und versuchen, die Lage wieder in den Griff zu kriegen: Ventile werden geschlossen, Notfallsysteme aktiviert. Acht schwerwiegende Pannen sind es dieses Mal, die ihnen auf dem Heimweg von der Internationalen Raumstation (ISS) in die kasachische Steppe widerfahren. Jede von ihnen könnte im Ernstfall zur Katastrophe führen.
Ein halbes Jahr im All
Aber noch ist es nicht ernst, nur eine Simulation. Und so klettern sie nach drei Stunden Heimflug gut gelaunt aus der grauen Kapsel, die im Kosmonautentrainingszentrum „Juri Gagarin“ nahe Moskau steht: Maxim Surajew, Russe, Reid Wiseman, Amerikaner, und der Deutsche Alexander Gerst. Am 28. Mai sollen sie von Baikonur aus zur ISS fliegen, die 400 Kilometer über der Erde kreist.
Gerst wird der elfte Deutsche im All sein. Ein halbes Jahr lang soll er dort Dutzende Experimente in der Schwerelosigkeit betreuen oder selbst ausführen. Aber der 37-Jährige hat noch eine andere, größere Mission: Er soll den 165 Millionen Euro, die Deutschland jährlich für die bemannte Raumfahrt ausgibt, ein Gesicht geben, soll die Menschen überzeugen, dass das Geld gut angelegt ist. Er soll sie begeistern, für einen Flug um den Mond, den er womöglich antreten könnte, vielleicht sogar zum Mars.
Solche fernen Ziele sorgen für viel Aufregung, wie sich kürzlich bei den Plänen einer privat finanzierten One-Way-Mission namens „Mars One“ zeigte. Die Raumstation hingegen hat den Reiz des Spektakulären verloren und damit einen Teil der öffentlichen Aufmerksamkeit: Vorbei sind die Zeiten, als beim Aufbau der Himmels-WG mitgefiebert wurde, es herrscht Routinebetrieb in den Laboren. Selbst die beteiligten Staaten haben teilweise das Interesse verloren und kürzen das Geld für die ISS. „Kommen weitere Einschnitte, können wir die Möglichkeiten für die Forschung in der Schwerelosigkeit nicht mehr voll ausnutzen“, sagt Volker Schmid, der beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) für bemannte Raumfahrt zuständig ist.
Alle erdenklichen Pannen werden simuliert, um für den Notfall vorbereitet zu sein
Gerst soll mit seinem ISS-Flug die Stimmung heben. Seit gut zwei Jahren trainieren er und seine Kollegen: den Hinflug, das Arbeiten in der Station, den Ausstieg in den freien Weltraum, den Rückflug. Alle erdenklichen Pannen werden simuliert, um die Crew vorzubereiten. Als besonders kritisch gelten Feuer und Druckabfall. „Wenn man dann in Panik gerät und die Kontrolle über sich verliert, wird es gefährlich“, sagt Gerst. Den Landeanflug zum Beispiel haben sie schon mehr als 30-mal geprobt. „Anfangs waren wir schnell überfordert, wenn zu viele Probleme auf einmal auftraten, jetzt haben wir eine gewisse Routine.“ Jeder muss wissen, was er zu tun hat.
Wie wichtig Vorbereitung sei, das wisse er aus seinem früheren Leben als Geophysiker, sagt Gerst. Für seine Expeditionen auf Vulkane habe er vorab vergangene Eruptionen studiert, Gefahrenzonen ausgemacht, die man besser meiden sollte – und dann Zelt, Proviant für mehrere Wochen sowie Messgeräte zusammengepackt, um herauszufinden, „wie unsere Erde funktioniert“.
"Der beste Job der Welt"
Als die europäische Raumfahrtagentur Esa 2008 neue Astronauten sucht, bewirbt sich Gerst sofort. Es war schon immer sein Traum, ins All zu fliegen und buchstäblich seinen Horizont zu erweitern. Es wäre der logische nächste Schritt, nach dem Inneren der Erde nun ihr Äußeres zu erforschen, sagt er. Es folgen harte Auswahlrunden, harte Trainings, Russischlernen – nach eigenem Bekunden die schwerste Aufgabe – und endlich die Zusage: Flug zur Raumstation im Mai 2014. „Ich zitiere gern meine Astronautenkollegin Samantha Cristoforetti, die gesagt hat: Ich habe den zweitbesten Job der Welt eingetauscht gegen den besten.“
Der beste Job der Welt besteht zurzeit darin, immer wieder die Landung mit der Sojuskapsel durchzuspielen – in einer gelb getünchten Halle im Moskauer Vorort „Sternenstädtchen“. Am Eingang grüßt der erste Mensch im All, Juri Gagarin, als Bronzeplastik, es folgen Fotografien von Sojus-Besatzungen aus der Vergangenheit. Sigmund Jähn ist dabei und Thomas Reiter. Diese Ahnengalerie der Raumfahrt schreiten Surajew, Wiseman und Gerst jeden Morgen ab. Die letzten Meter zur Trainingskapsel sind mit rotem Teppichboden ausgelegt. Ein Assistent streift ihnen die Überschuhe von den Füßen. Schließlich soll kein Schmutz in das Raumschiff gelangen. Dann zwängen sich die Männer ihre Helme auf und in die Kapsel hinein. Tür zu, mal sehen, welche Probleme es heute gibt.
Mit einem Raumanzug und 80 Kilo Blei ins Wasser
In den Nachbargebäuden stehen Nachbauten der russischen ISS-Module. Wiederum eine Teppichbodenvariante, um den Stationsalltag zu üben, sowie nackte Metallgerippe, an denen Außeneinsätze trainiert werden. Um einen Anflug von Schwerelosigkeit zu vermitteln, werden diese Module im Wasser versenkt und die Kosmonauten müssen mit einem 112 Kilogramm schweren Raumanzug sowie 80 Kilo Blei am Körper hinterher. Dazu werden sie von einem Kran hereingehievt, denn aus eigener Kraft schafft es keiner bis zur Leiter. Der Weg zum Becken ist natürlich wieder mit Kosmonautenporträts geschmückt.
„Das Sternenstädtchen hat eine ganz besondere Ausstrahlung“, sagt Gerst nach dem Training im Gespräch mit Journalisten, die auf Einladung der Esa und des DLR hierhergereist sind. „In der Turnhalle gibt es noch den Spind von Juri Gagarin, sogar seine Sportschuhe stehen noch darin.“ Er möge diesen Ort, wo Traditionen und moderne Technik aufeinandertreffen.
In der Tat, auch wenn das Sternenstädtchen auf den ersten Blick wie ein Disneyland der großen sowjetischen Raumfahrt erscheint, so leistet Russland bis heute einen entscheidenden Beitrag für den Außenposten der Menschheit im All. Seit dem Ende der Spaceshuttles sind die Sojus-Raumschiffe die einzige Möglichkeit für Astronauten, zur ISS und zurück zu gelangen. Die russischen Module der Raumstation bewähren sich seit Jahren, wie auch die amerikanischen und das europäische Forschungslabor „Columbus“.
Sparmaßnahmen am Boden
Dennoch hat die rund 100 Milliarden Dollar teure Station (das gilt für den „westlichen“ Teil, Russland veröffentlicht keine Zahlen dazu) so einige Probleme. Auf der Erde. Um Kosten zu sparen, sind die Kontrollzentren der Nasa nicht mehr rund um die Uhr besetzt, sie arbeiten nur noch werktags in voller Besetzung. Ähnlich sieht es bei der Esa aus. „2011 wurde beschlossen, die Ausgaben für den ISS-Betrieb bis 2015 um 30 Prozent zu senken“, sagt Schmid. Jetzt stehen jährlich nur noch rund 300 Millionen Euro zur Verfügung.
In der Folge seien Kontrollzentren, etwa für das Columbus-Labor, mit weniger Personal besetzt. Das bedeute zum Beispiel, dass es bei kleineren Reparaturen an Experimenten oder am Modul während der Wochenenden keine Hilfe durch Experten am Boden gibt. Solche Aufgaben werden vertagt – in eine ohnehin volle Arbeitswoche. Auch bei der Unterstützung der Wissenschaftler, die die Forschungsmöglichkeit in der Schwerelosigkeit nutzen, wird gespart. „Wir werden nicht mehr alle Leistungen erbringen können wie bisher. Sollte das ISS-Programm weiter zusammengestrichen werden, drohen drastische Einschnitte, die richtig wehtun“, sagt Schmid. Er betont aber, dass die Sicherheit der Astronauten nicht in Gefahr ist. „Sollte es einen Notfall geben, wird das am Boden sofort registriert und durch Fachleute Hilfe gegeben.“
Wegen der Krise wird an der ISS gespart
Ob sich die Stimmung bei der Esa ändert, ist fraglich. Aufgrund der Wirtschaftskrise halten die Mitgliedstaaten ihr Geld zurück. Die bemannte Raumfahrt und die ISS stehen auf den Prioritätenlisten eher weiter unten. Vorrang haben die Erdbeobachtung mittels Satelliten oder die Ariane-Rakete. Ende des Jahres wollen die Esa-Länder wieder einmal verhandeln, wie viel Geld sie in den folgenden Jahren in ihre Raumfahrtprojekte investieren wollen.
Gerst soll darum nicht nur ISS-Botschafter fürs Laienpublikum, sondern auch für die Raumfahrtmanager der übrigen Länder sein, ohne diese durch die ohnehin starke Position Deutschlands in der Esa zu verprellen. Der DLR-Chef Johann-Dietrich Wörner achtet darum stets darauf, den in Künzelsau aufgewachsenen Gerst nicht als Deutschen, sondern als „europäischen Astronauten deutscher Nation“ zu bezeichnen. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen an ihn. „Anfangs wussten wir nicht, ob er das alles schaffen wird“, sagt jemand aus seinem Umfeld. „Jetzt hat er seine Rolle gefunden und füllt sie aus.“
Gerst könnte um den Mond fliegen
Im Hintergrund laufen bereits die Vorbereitungen für seinen nächsten Flug. Der könnte sogar einmal um den Mond führen. Dahinter steht die Überlegung, dass Europa als „Eintrittskarte“ zur ISS in zukünftigen Jahren der Nasa ein wichtiges Modul für deren „Orion“-Raumschiff baut. Falls die Amerikaner ein zweites Modul ordern, könnte im Gegenzug der Mitflug für einen europäischen Astronauten herausspringen: für eine Reise um den Mond – ohne Landung – etwa um 2020. „Für Alexander Gerst und für Deutschland wäre das eine schöne Perspektive“, findet Schmid.
Gerst macht keinen Hehl daraus, dass er eines Tages weiter fliegen will als bis zur ISS, zum Beispiel zum Mars. „Er könnte uns verraten, ob es dort früher – vielleicht sogar noch heute – Leben gab“, sagt er. Forschungsroboter genügen seiner Meinung nach nicht, um diese Frage zu beantworten. „Die Robotik macht Fortschritte, aber die Intuition eines Menschen, der gezielt bestimmte Proben auswählt und untersucht, davon sind die Roboter noch weit entfernt.“
Also müssen Astronauten hin, findet er. Vorausgesetzt, die Raumfahrttechnik ist so weit und es gibt eine relativ sichere Rückkehrmöglichkeit. Von dem Plan, Freiwillige mit einem One-Way-Ticket auf den Planeten zu bringen, hält er nichts. „Zu den wichtigsten Dingen bei der Exploration gehört, dass wir zurückkommen und erzählen können, wie es in der Ferne war“, sagt Gerst. „Wie es sich angefühlt hat, dahin zu fliegen und auch wie es war, zurückzukehren und unseren Planeten zu sehen.“ Er kennt die berühmten Bilder, hat es sich von Raumfahrerkollegen erzählen lassen: Wie klein und verletzlich der kleine blaue Punkt im dunklen All wirkt. So heißt auch seine Mission: „Blue dot“.