Deutsche in St. Petersburg: An die Menschen erinnert nichts mehr
In St. Petersburg lebten einst 50.000 Deutsche, sie prägten die Stadt. Viele wurden Opfer des „Großen Terrors“ im Stalinismus. Ein neues Buch erinnert daran.
Am Montag, den 3. Oktober 1938, wird Oskar Böhme morgens aus seiner Zelle geholt. Er müsse zu einer medizinischen Untersuchung, sagt man ihm. Er wird in einem unwirtlichen Kellerraum geführt. Nachdem er eine Weile gewartet hat, kommt ein NKWD-Mann herein, setzt blitzschnell eine Pistole an seinen Nacken und drückt ab. Der Kornettist und Trompeter Oskar Wilgelmowitsch Böhme, der 1870 im sächsischen Potschappel zur Welt gekommen und 1898 voller Hoffnung nach St. Petersburg übersiedelt war, ist sofort tot. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn darüber zu unterrichten, dass er auf Grundlage einer schlampig zusammengeschusterten Anklage zum Tode verurteilt worden war.
Böhme, dessen Schicksal Christian Neef jetzt in seinem neuen Buch „Der Trompeter von Sankt Petersburg. Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa“ nachzeichnet, war eines der letzten Opfer des stalinistischen „Großen Terrors“. Das Politbüro der KPdSU hatte im Januar 1938 beschlossen, noch einmal 48.000 Menschen hinzurichten. Tatsächlich waren es am Ende mehr als viermal so viele, aber wenige Wochen nach Böhmes Erschießung kam das Fließband des Todes dann plötzlich zum Stillstand.
Oskar Böhme war ein außergewöhnlich begabter Musiker. Bereits mit 15 Jahren verließ er das Elternhaus und tourte mehrere Jahre als Solist durch Europa. Danach erhielt er eine Ausbildung am Konservatorium in Leipzig, ging nach St. Petersburg und erhielt 1902 eine Stelle als Kornettist im Orchester des weltberühmten Mariinski-Theaters. Er nahm die russische Staatsbürgerschaft an und wurde sogar, obwohl ursprünglich Deutscher, noch kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Ehrenbürger von St. Petersburg ernannt.
Das Leben des Trompeters von St. Petersburg
Böhme machte eine glänzende Karriere als Solist, begann zu komponieren, hatte zahlreiche Privatschüler und konnte seine Arbeit auch nach der Russischen Revolution zunächst fortsetzen. Ab 1921 leitete er die Trompetenklasse der Rimski-Korsakow-Musikschule. Böhme war einer der größten Trompetenvirtuosen des frühen 20. Jahrhunderts, seine Kompositionen werden heute von Brass-Bands auf der ganzen Welt gespielt.
Das Leben dieses Mannes ist paradigmatisch für das Schicksal der deutschen Gemeinde in den letzten Jahrzehnten vor und den ersten Jahrzehnten nach der Russischen Revolution. St. Petersburg, 1703 von Peter dem Großen gegründet, war eine dem Westen zugewandte Stadt. 50.000 Deutsche lebten hier gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie stellten die größte ethnische Gruppe nach den Russen. In allen Segmenten der Gesellschaft gab es Deutsche – Handwerker, Kaufleute, Wissenschaftler, Politiker. Nicht wenige erreichten hohe Ränge und wurden Minister, Gouverneure und Diplomaten.
In den Jahren des Ersten Weltkriegs wurde das Leben für die Deutschen, auch wenn viele von ihnen inzwischen loyale Untertanen des Zaren geworden waren, sehr viel schwieriger, aber der eigentliche Weg in die Katastrophe begann erst nach der Russischen Revolution. Die Apotheke der aus Perleberg eingewanderten Familie Poehl, die bekannteste Apotheke der Stadt, die auch den Hof belieferte, wurde entschädigungslos enteignet und verstaatlicht. Nicht anders erging es der Kalender- und Schreibwarenfabrik der Brüder Karl und Otto Kirchner, die Petrograd, wie es nun hieß, verließen und genau wie Hunderttausende Russen Zuflucht in Berlin suchten.
Die Kirchen wurden geschlossen
Alle Kirchen wurden geschlossen, der Religionsunterricht bei Strafe verboten. Der 62-jährige Paul Reichert und sein 29-jähriger Sohn Bruno, die beiden letzten Pastoren an der deutschen Petrikirche, wurden zusammen mit elf Gemeindemitgliedern wegen Bildung einer „faschistischen Untergrund-Kirchen-Organisation“ 1938 erschossen. Wenn es galt, das vorgegebene Soll an Hinrichtungen zu erfüllen, waren die Deutschen besonders gefährdet. Da sie ausländische Wurzeln hatten, standen sie unter dem Generalverdacht der Illoyalität.
Böhme war 1935 zunächst für drei Jahre nach Orenburg an der Grenze zu Kasachstan verbannt worden. Aber auch er wurde schließlich als antisowjetischer Volksfeind liquidiert. Das Protokoll seiner Verhöre durch die Geheimpolizei, das Christian Neef ausführlich zitiert, ist ein gespenstisch-dramatischer Höhepunkt seines Berichts. Es zeigt, mit welcher Sorglosigkeit die Folterknechte des NKWD sich damals irgendeinen Unsinn zusammengereimt haben, um die gewünschten Todesurteile zu rechtfertigen.
Von der Präsenz der Deutschen bleiben nur steinerne Zeugen
Ende 1938 sind nahezu alle Deutschen in Leningrad dem Stalinterror zum Opfer gefallen. Von der lange Zeit so bedeutsamen Präsenz der Deutschen bleiben nur steinerne Zeugen. So steht die Poehl’sche Apotheke noch immer, sie ist heute ein Museum. Aber an die Menschen erinnert nichts mehr. Wir wissen nicht einmal, wo Oskar Böhme begraben worden ist. Möglicherweise gehört er zu den 8000 Menschen, die südlich von Orenburg in einem „Spezialobjekt“ des NKWD in Massengräbern verscharrt worden sind.
So gab es lange Zeit Gerüchte, Böhme sei noch am Leben. Zeugen wollten ihn in einem Arbeitslager in Turkmenistan gesehen haben. Doch Anatolij Jakowlewitsch Rasumow, der an der Russischen Nationalbibliothek tätig ist und seit 1995 die Buchreihe „Leningrader Martyrologium“ herausgibt, die das Schicksal der Opfer des Großen Terrors dokumentiert, gelang es nachzuweisen, dass Böhme 1938 umgekommen ist. Seine wichtigste Quelle ist das Telefonbuch von 1937; danach erschienen keine mehr. Auch die Tafeln mit den Namen der Hausbewohner verschwanden aus den Wohnhäusern, weil man sie sonst dauernd hätte umschreiben müssen. Christian Neef, damals noch Korrespondent des „Spiegel“, hat 2015 über den „Archivar des Terrors“ berichtet. Die Begegnung mit Rasumow war der Ausgangspunkt für das nunmehr vorliegende Buch.
Neef entfaltet ein großes Panorama der 200-jährigen Geschichte deutscher Präsenz in der Stadt: „Sie haben Zaren, Regierungschefs und Minister gestellt, waren Mediziner und Architekten, Klavierbauer und Buchbinder, Brauer oder Bäcker. Vieles von ihrem Glanz verdankte die russische Residenz den Deutschen.“ Von 1712 bis 1918 war St. Petersburg die Hauptstadt des Zarenreiches. Davor und danach war es Moskau. Es war die glanzvollste Epoche in der Geschichte der Stadt. Unter der Vernichtung der alten gesellschaftlichen und kulturellen Eliten durch die Bolschewiki hat die Stadt ganz besonders gelitten: „Petersburg hat nie mehr an seine große Vergangenheit anknüpfen können.“
Eine Mahnung an Wladimir Putin
Die Geschichte der deutschen Gemeinde von St. Petersburg erzählt Neef an Hand der Schicksale einer Reihe von Personen und Familien. Im Mittelpunkt steht der Trompeter Oskar Böhme, aber auch andere Schicksale werden ausführlich erzählt, wobei die Erzählungen der verschiedenen Lebenswege der Chronologie folgend miteinander verwoben sind. Den einzelnen Biografien nachzugehen, ist leider dadurch erschwert, dass der Verlag auf ein Personenverzeichnis verzichtet hat. In einem Anhang „Was wurde aus …“ berichtet der Autor darüber, wie es den Protagonisten nach dem Ende deutschen Lebens in Leningrad ergangen ist. Eindrucksvoll ergänzt wird die Darstellung durch zahlreiche zeitgenössische Fotografien von Carl Bulla, der Ende des 19. Jahrhunderts eine Fotoagentur in St. Petersburg eröffnete. Bulla stammte ursprünglich aus Schlesien und gilt als Begründer der russischen Fotoreportage.
Wladimir Putin, der Russland heute wie ein Diktator beherrscht, begann seine politische Karriere einst in St. Petersburg. Für ihn hält der Autor eine Mahnung bereit: „In einer Zeit, da Russland wieder auf Abschottung vom Westen setzt und sich selbst isoliert, ist es wichtig, sich daran zu erinnern: Auf Dauer können keine Stadt und kein Land, auch nicht Petersburg und Russland, abgewandt von der übrigen Welt gedeihen.“ Leider gibt es auch hierzulande manche Politiker, die man daran immer wieder erinnern muss.
- Christian Neef: Der Trompeter von Sankt Petersburg. Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa, Siedler Verlag, München 2019. 383 Seiten, 28 Euro.