Polarlicht: Am Himmel bunte Geister
Wer Glück hat, sieht grün: Jetzt ist die beste Zeit, im Norden Norwegens das faszinierende Polarlicht zu erleben.
Wie schön, wenn sich jemand seinen Lebenstraum erfüllt. Wie großartig erst, wenn es sich dabei um etwas vollkommen Abseitiges handelt: Rob Stammes’ ganze Leidenschaft etwa gilt nächtlicher Magie. Bis 2007 schraubte der gebürtige Holländer Elektrogeräte zusammen, dann zog er auf die Lofoten und widmet sein Leben seitdem der Erforschung des Nordlichts. Sein Geld verdient er, indem er dieses Wissen an Interessierte weitergibt.
Im ehemaligen Gemeindehaus von Laukvik hat er einen kompletten Raum meterhoch mit unterschiedlichen Apparaturen vollgestellt. Sie dienen dazu, erdmagnetische Aktivitäten zu messen und aufzuzeichnen. Auf einem kleinen Monitor flimmert eine dünne, grüne Linie. „Wenn sie ausschlägt, müssen wir hinaus“, sagt der hagere Mittsechziger mit dem grauen Bart. „Unsere Chancen, Polarlichter zu erleben, stehen heute bei 90 Prozent.“
Wie er darauf kommt, erklärt er bei der anschließenden Präsentation: Ursache der Nordlichter sind Eruptionen auf der Sonne, die in einem elfjährigen Zyklus zu- und abnehmen. 2012 war der jüngste Höhepunkt solcher Aktivitäten und nur langsam werden sie weniger. „Vor zwei Tagen erst fanden wieder kräftige Ausbrüche statt“, sagt er. Und rund zwei Tage brauchen auch die Sonnenwinde, um zur Erde zu gelangen. In 80 bis 130 Kilometern Höhe treffen ihre Elektronen auf Gasteilchen aus der Erdatmosphäre, glühen milliardenfach auf und erlöschen schließlich. Sichtbar wird dieser Vorgang in einem sich verschiebenden Ring rund um den magnetischen Nordpol. Die Lofoten liegen meist in diesem Bereich.
So weit die Theorie. Die Praxis freilich lässt leider irgendwie zu wünschen übrig. Denn an diesem Abend möchte einfach nichts zu zucken beginnen, weder auf dem Monitor von Rob Stammes und schon gar nicht am Himmel. Die Natur will und will sich unerklärlicherweise nicht an die Vorgaben des Experten halten. Und also beschränkt sich Rob darauf, den Besuchern Tee und Kekse zu servieren, statt Tanz und Krawall am Firmament zu präsentieren.
Im Trollfjord warten Seeadler auf das Schiff
Am nächsten Morgen orgelt der Sturm ordentlich um unsere zur Touristenunterkunft umgebauten Fischerhütte am Hafen von Svolvær. Doch der Wind legt sich bald – und das ist gut so. Denn natürlich lockt das nördliche Norwegen nicht nur mit der Jagd auf flimmernde Farbschleier am Nachthimmel. Heute morgen geht die „Orca“ auf Natursafari. Und wir dürfen mit. Noch bilden Meer und Berge bloß tiefbraune, dunkelgrüne und blaugraue Flächen.
Nur der Himmel ist so blassblau, wie ein Himmel nur blassblau sein kann. Ein riesengroßer, eisiger Mond hängt über dem schartigen Sägeblatt der Berggipfel, und dann leuchtet in der Bucht gegenüber die Sonne auf. Ein paar Meter über dem Wasser drückt sie sich ein, zwei Stunden am Horizont entlang, ehe sie wieder versinkt und das Meer noch einmal rotgolden aufglühen lässt wie den letzten Abstich des Tages im Schmelzofen.
Im engen Trollfjord haben die Seeadler offenbar schon auf unser Schiff gewartet. Drei, vier von ihnen stellen von nun an den luftigen Begleitservice, ehe sie im nächsten Revier von den nicht weniger begeisterten Nachbarn abgelöst werden. Hin und wieder pumpt die Matrosin mit einer Spritze Luft in einen toten Hering, schwenkt ihn lockend und schleudert ihn ins Wasser: Ein Rauschen in der Luft, ein schneller Schatten gleitet über die Köpfe – und gekonnt fischen nadelspitze Krallen die leichte Beute aus den Wellen.
Lebertran kosten!
Der Trollfjord war Schauplatz jener legendären Schlacht im Jahre 1890, als die Fischer in Ruderbooten mit den Besatzungen der neu aufgekommenen Dampfschiffe kämpften, um sich Zugang zu den Dorschgründen zu verschaffen. Von der Fischerei erzählt auch der fröhliche Hoteldirektor Kalle Mentzen in der historischen Trankocherei „Full Steam“ in Henningsvær.
Zwischen einer Sammlung alter Netze, Boote, Stockfischpressen und Trankessel wird den Besuchern „Kaviar“ aufgetischt, das heißt, Rogen vom Dorsch, angemacht mit Zwiebeln und saurer Sahne. Ragnar Riksheim, einer der größten Stockfischexporteure der Inseln, brät höchstpersönlich Dorschzungen in Butter und serviert einen köstlichen Fischeintopf.
Vorher aber heißt es, den inneren Schweinehund zu überwinden: Lebertran kosten! Doch der Schrecken aller Nachkriegskinder, warm serviert im Plastikbecher, läuft fast unmerklich den Rachen hinunter. Nachgespült wird mit sechzigprozentigem Schnaps.
Wird der Himmel heute Nacht tanzen?
Um ein Stück weiter nach Norden zu kommen, steigen wir auf der „Midnatsol“ zu. Das Linienschiff der Hurtigruten schiebt durch die Nacht, Stunde um Stunde vorbei an weiß bestäubten Bergen, in denen kahle Birken wie Besen stehen. Und immer wieder mal funkelt ein in großer Einsamkeit verlorenes Licht. Auf dem Oberdeck werden Stative entfaltet, aufwendige Kamera-Ensembles aufgebaut und große Hoffnungen gehegt. Gäste lassen sich in den gut geheizten Pool gleiten, über dem eine Dampfwolke in der eisigen Luft steht, legen den Kopf in den Nacken und blicken verträumt nach oben: Wird der Himmel heute Nacht tanzen?
Er tanzt nicht. Vielmehr wird das Land zur Tiefkühlware. Minus 27 Grad misst das Thermometer am folgenden Mittag, als wir in Finnsnes von Bord gehen. Auf der Insel Senja, von der aus Dag Strømholt seine Gäste hinaus zu den Walen bringt, sind es immer noch minus zehn. Doch Fellmützen und Thermoanzüge halten auf dem Schlauchboot warm, und sowieso bleibt wenig Zeit, große Gedanken an Temperaturen zu verschwenden. Es gilt, das weite Rund der Bucht abzusuchen, um einen Rücken, einen schwarz-weißen Kopf oder eine Schwanzflosse auftauchen zu sehen, die an ein schmales, hohes Segel erinnert. Orcas formieren sich immer zum Verbund und jagen so gemeinsam die Heringsschwärme. Vor fünf, sechs Jahren traf man die vor allem vor den Lofoten an. Mittlerweile jedoch sind die Heringe in neue Reviere gen Norden gewandert, die Wale sind ihnen gefolgt und die Chancen, sie rund um Senja beobachten zu können, stehen bestens. Theoretisch. Von unserem Boot aus sehen wir heute allerdings nichts.
Kehrtwende, Richtung Land. Und dann die Überraschung: Kaum sind wir nur noch 200 Meter vom Ufer entfernt, schiebt sich plötzlich ein schwarzglänzender Koloss aus dem Wasser: ein Buckelwal. Prustend gleitet er zurück und zeigt beim Abtauchen platschend seine weißgraue Schwanzflosse, als grüße er noch einmal – etwas höhnisch – zum Abschied herüber. Schon geht die Dämmerung von diffusem Grau in ein bläuliches Schwarz über – es wird Zeit fürs Mittagessen. Halb drei nachmittags zeigt die Uhr.
"Das Nordlicht muss man sich verdient haben"
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Auch die, ein Polarlicht zu erleben. Ivar Haugen in Tromsø hat sich ebenfalls der Suche danach verschrieben. Vor elf Jahren war der Norweger mit dem trockenen Humor der erste, der Nordlicht-Safaris organisierte, heute bieten 26 „Pfadfinder“ ihre Dienste an.
Aus der mangelnden Vorhersagbarkeit hat er eine Philosophie gebastelt: „Das ist Natur. Seht es positiv. Alles ist offen. Das macht den Reiz aus.“ Doch gegen eventuell aufkeimende Unzufriedenheit unter seinen Gästen beugt er schon mal vor: „Das Nordlicht muss man sich verdient haben. Wenn keines erscheint, wisst ihr, woran es liegt.“ Im Durchschnitt aber, behauptet er, liege seine Trefferquote bei 85 Prozent. So hoch wie die von Rob.
An vier möglichst lichtarmen Stellen rund um Tromsø hat er sogenannte Basislager anlegen lassen. Der Himmel ist sternenklar, die Luft 20 eisige Grad kalt. In einem Lavvu, der traditionellen Rundhütte, haben der Same Johan Oskal und seine Frau Karen ein Feuer entzündet. Zwei große Teller Bidos, Rentiereintopf mit viel Gemüse, wärmen den Körper durch.
Manche jubeln, manche weinen
Der Rentierzüchter erzählt vom Leben mit seinen Tieren …, doch plötzlich steht Ivar in der Tür und bittet zur Show. Im Nordosten zieht hoch am Himmel so etwas wie ein breiter, milchiger Kondensstreifen auf. „Er füllt sich, ganz so wie eine Pipeline“, erklärt der Führer. Langsam, sehr langsam färbt er sich grün ein und zerfließt an einigen Stellen wie ein Aquarell. „Beschuss aus dem All. Eigentlich sollten wir uns fürchten“, flüstert Yvar. „Aber wenn es einmal gelänge, diese ungeheure Kraft anzuzapfen, hätten wir unsere Energieprobleme für immer gelöst.“ Ah ja, auch die öl- und gasverwöhnten Norweger machen sich Gedanken über die Zukunft.
Lange passiert wenig, dann flackert eine Reihe grüner Streifen auf, wie Tasten eines Pianos, das sich selbst spielt. Und plötzlich gerät der Himmel in Aufruhr. Das Grün tanzt und vibriert und windet sich wie zuckende Geister, die eben glücklich der Flasche entkommen sind. Als schließlich eine unsichtbare Hand eine smaragdfarbene Schlange über das schwarze Firmament peitscht, wieder und wieder und wieder, kann man gar nicht mehr anders, als mit offenem Mund nach oben zu starren, und immer wieder entfährt einem ein „Ooh!“.
„Es gibt Menschen, die haben jahrelang gespart, um das hier einmal zu erleben“, sagt Yvar. „Manche jubeln dann. Manche weinen.“ Und andere ahnen jetzt zumindest, wie jemand auf die Idee kommen kann, dieses flüchtige, geheimnisvolle Geschehen am nördlichen Himmel sogar zu seinem Lebensinhalt zu machen.
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