Adria: Am Hafen von Leonardo da Vinci
Italiens Ostküste bietet lange Strände für Partys. Wer Geschichte sucht, fährt zum charmanten Fischerort Cesenatico.
Drei Frauen sitzen im Auditorium der kalten Auktionshalle. Und 30 Männer. Die Wände zieren historische Segler von Cesenaticos alteingesessenen Fischerfamilien. „Rauchen, Spucken, Trinken, Essen verboten“, mahnt ein Schild. Ein Schriftband über dem Stand des Auktionators, in der Gabriele Teodorani den Fang der Nacht versteigert, zeigt den Namen des Fischs und den Preis pro Kilo an. Während die Ware über ein Transportband läuft, sinkt der Preis in Sekunden in Zehn-, Zwanzig- oder Fünfundzwanzig-Cent-Schritten – je nachdem, ob Tintenfisch, Seebarbe oder Garnelen in den Stiegen liegen.
Ein Blick, ein Knopfdruck. Wer zögert, verliert die Ware an einen anderen Händler oder Küchenchef. Blitzschnell und unter einigem Geschrei ist jede Kiste verkauft. Der Computer weiß, wer bei der Bank keinen Kredit mehr hat. Die rote Lampe, die den Verkauf signalisiert, leuchtet beim Knopfdruck des Einkäufers gar nicht erst auf, wenn der mit Zahlungen im Rückstand ist.
Seit 30 Jahren verkauft Gabriele Teodorani im „Mercato Ittico“ den Fang von Cesenaticos Fischern. Zwischen 700 und 800 Kisten rollen täglich übers Band, nach der 40-tägigen Schonzeit des Hochsommers sind es dann doppelt so viele. Trotz dieser ansehnlichen Menge hat sich die Fischerei an der nördlichen Adria verändert. „In meiner Kindheit lebten 700 Fischer in Cesenatico, heute sind es noch 70“, sagt Gabriele.
In den sechziger und siebziger Jahren hatten die Fischer kleinere und langsamere Boote. „Nun sind die Boote schneller, aber es gibt weniger Fisch.“ Immer weiter müssen die Männer in die überfischte Adria hinausfahren, wenn sie ihren Lebensunterhalt sichern wollen.
Morgens aufs Meer, nachmittags an den Strand
Es ist nicht die einzige Unwägbarkeit ihres Berufs. Im Winter können sie bei Nebel oder Sturm oft tagelang nicht arbeiten und verdienen nichts. Stimmt das Wetter, stehen sie mitten in der Nacht auf oder fahren schon am Abend hinaus. Wer größere Fische oder Kaisergranat fangen will, hier die teuersten Meeresfrüchte, muss sich mindestens zwölf Seemeilen vom Hafen entfernen. Schon um Treibstoff zu sparen, bleiben die Fischer dann gleich zwei Tage auf dem Meer. Auch deshalb verlegen sich viele auf Miesmuscheln, die an Pfählen gezüchtet werden.
So wie Paolo Polini, der sein Geld jahrzehntelang als Fischer verdiente. „Vor 30 Jahren bin ich um drei, vier Uhr morgens raus und war mittags wieder im Hafen“, sagt Paolo. „Heute fahren die Jungs schon abends um 18 Uhr.“ Als sich vor acht Jahren die Gelegenheit bot, eine Konzession für Miesmuschelzucht zu übernehmen, schlug er zu. Jetzt fährt er bei Sonnenaufgang aufs Meer, kommt mittags zurück und ist nachmittags am Strand.
Sein Schiff „Marina Blu“ liegt im Hafenkanal von Cesenatico, jener ebenso schmucken wie sinnigen Konstruktion, die der große Leonardo da Vinci Anfang des 16. Jahrhunderts als Ankerplatz für das landeinwärts gelegene Cesena entwarf. Noch heute wird der Kanal nach dem von da Vinci ersonnenen Verfahren entsandet. Am Kanalende liegen die historischen Schiffe des maritimen Museums im Wasser, ihre bunten Segel blähen sich unter blauem Himmel vor pastellfarbenen Fischerhäusern.
Der Hafen ist immer belebt
In der Pescaria, der 1911 erbauten und 60 Jahre später restaurierten Markthalle für Fisch, kaufen die Bürger Cesenaticos Tintenfisch, Seezunge, Mies- und Venusmuscheln fürs Abendessen. Gleich dahinter verströmt auf der Piazzetta delle Conserve neben steinernen Eisbecken, in denen die Fischer einst ihren Fang frisch hielten, ein Obstmarkt den Duft reifer Pfirsiche und frisch aufgeschnittener Wassermelonen. Hier wirkt Cesenatico so dörflich, als gäbe es den endlosen Strand nicht, in dessen Schatten am ganzen Küstenabschnitt ungezählte Hotels, Restaurants, Eisdielen und Boutiquen entstanden sind.
26 000 Menschen leben in Cesenatico, die bekanntesten sind der Dramatiker und Literatur-Nobelpreisträger Dario Fo sowie der Regisseur und Oscar-Preisträger Roberto Benigni. Im Sommer vervierfacht sich die Einwohnerzahl. Doch auch im Winter ist Cesenatico weder trüb noch trostlos. Der Hafen ist immer belebt, und am Wochenende strömen die Bewohner des Hinterlands in die Fischrestaurants.
An der Ausfahrt des Hafens, auf der Piazza Spose Marinai, dem Platz der Fischerfrauen, steht die Skulptur „La Mà“ des Bildhauers Quinto Pagliarani. Diese Mutter blickt mit ihren Kindern aufs Meer hinaus, so wie die Frauen der Fischer hier immer schon nach ihren Männern Ausschau hielten. Ihre Boote erkannten sie an den farbigen Segeln.
Funkelnde Lobby, luxuriöse Zimmer
Cesenatico, das in den sechziger Jahren deutschen Urlaubern zum Inbegriff sommerlicher Badefreuden wurde, ist im Herzen ein Fischerort geblieben. Würde die „Madre“ nach rechts blicken, sähe sie den breiten Strand, der sich bis zum Horizont streckt. Nur die Silhouette des 1958 vollendeten Wohnturms, mit einer Höhe von 118 Metern war der „Grattacielo di Cesenatico“ seinerzeit das höchste Gebäude Italiens, stört die natürliche Pracht.
Neben der Hafenausfahrt erhebt sich eins der beiden Luxushotels der Stadt. Nach Niedergang und Leerstand wurde das „Grand Hotel da Vinci“ 2013 als erstes Fünf-Sterne-Haus am Platz zu neuem Leben erweckt. In den achtziger Jahren war eine kaufmännische Schule in dem von zwei Villen gerahmten Gebäude untergebracht, später wurde es als Ausstellungsfläche genutzt und schließlich wegen Baufälligkeit geschlossen – eine Wunde im schönsten Teil der Stadt.
Dann kam Antonio Batani, legendärer Hotelier der Emilia Romagna und Inhaber etlicher Hotels an der nördlichen Adria. 2007 hatte er das Grand Hotel in Rimini gekauft und zu neuem Ruhm geführt. Nun nahm er sich seines Pendants in Cesenatico an. Die weiße, von Pinien flankierte Fassade, eine funkelnde Lobby, schwelgerisch gestaltete Zimmer und der Strand, an dem viel freie Fläche zwischen milchkaffeefarbenen Liegen adriatypisches Sonnenbaden in Sardinenanordnung neu interpretiert, sollen an den frühen Glanz anknüpfen – und die Deutschen nach Cesenatico zurücklocken, derer sich Batani als treue Gäste der Gründerjahre gerne erinnert.
Alle fünfzig Jahre wird das Meer wütend
Schon immer, so sagt man hier, habe der 78-jährige Unternehmer aus Rimini ein besonderes Gespür für gute Gelegenheiten besessen. Als der Tourismus an der nördlichen Adria in den späten achtziger Jahren durch die Algenpest annähernd zum Erliegen kam und viele Hoteliers verkauften, sprach er mit den Fischern, die er seit seiner Kindheit kannte. Er solle sich keine Sorgen machen, sagten die, so etwas komme alle fünfzig Jahre vor: Das Meer sei wütend und stoße alles von sich; bald werde es wieder besser aussehen. Batani verließ sich darauf und kaufte zu günstigen Preisen. Heute gilt die Wasserqualität an der Küste trotz hoher Einleitungen verschmutzten Wassers aus dem Fluss Po als einigermaßen gut.
Auch Muschelbauer Paolo sieht das so. „Das Wasser ist hier so sauber, dass wir die Muscheln direkt essen können“, erklärt er. Anderswo müsse man sie vor dem Verzehr 24 Stunden wässern.
Paolo machen andere Dinge Sorgen, vor allem die mobilen Gasförderungsplattformen, die jeden Tag mit Millionen Kubikmeter Meerwasser ihre Aggregate kühlen und als destilliertes Wasser ins Meer zurückleiten. In der Ferne, jenseits der Bojen, die die Konzessionen der Farmer markieren und für sie so erkennbar sind wie Zäune im Schrebergarten, liegen zwei gewaltige Plattformen im spiegelglatten Wasser. „Die machen unser Meer kaputt.“ Muschelfarmen hingegen seien die „Lungen des Meeres“, weil jede Muschel Wasser filtere. Umweltschonend sei die Zucht außerdem, weil die Muscheln hier nicht vom Meeresboden geklaubt, sondern auf Holzpflöcken gezüchtet werden.
Entweder Fischer, oder gar nichts
Ab und zu nimmt Paolo Urlauber mit aufs Meer, mindestens zehn müssen sich anmelden, damit sich der Aufwand rechnet. Dann ist auch Lily an Bord, Paolos Frau. Er steuert das Boot und zeigt den Touristen, wie Muscheln gepflegt und geerntet werden, zurück im Hafen servieren er und Lily auf dem Schiff ein mehrgängiges Menü. Auf dem Meer schauen die Urlauber zu, wie Paolo und Sohn Diego Muschelstöcke aus dem Wasser ziehen. Jeder Handgriff von Vater und Sohn sitzt, sie sprechen kaum bei der Arbeit.
An Bord sortiert eine Maschine zu kleine Exemplare aus, wäscht die Meeresfrüchte und füllt sie in einen Netzschlauch. Diego schneidet ihn in gleich große Stücke; jedes wiegt zwischen 35 und 40 Kilogramm.
Lily, eine gebürtige Schweizerin, erzählt abwechselnd auf Deutsch und Italienisch: Wie Paolos Großvater, der noch mit dem Segelboot aufs Meer hinausfuhr, seiner Frau am Sterbebett versprach, dass ihr gerade geborener Sohn, Paolos Vater, nicht Fischer werden würde; wie der folgte und sein Geld als Kellner verdiente. Für die nächste Generation aber galt das Versprechen nicht mehr.
Das Meer lockte Paolo, so wie Diego, den mittleren Sohn Paolos und Lilys, dem es in der Schule nie recht gefiel und der schon mit 14 Jahren quengelte, er wolle aufs Meer, sonst gar nichts. Mit 16 fing er an, arbeitete erst bei einem anderen Fischer, dann auf dem Boot des Vaters, später mit einem Kompagnon. Als auf der „Marina Blu“ eine der drei Konzessionen frei wurde, die jeweils 2000 Meter Muschelstöcke umfassen, stieg Diego, heute 28, beim Vater ein.
Der Wein fließt in Strömen
Seither arbeiten sie in der Landwirtschaft. Dazu zählt der Staat auch die Miesmuschelzucht. Finanziell bringt das Vorteile, da die Unwägbarkeiten der Natur durch mildere Besteuerung abgefedert werden. Denn wenn im Winter Wind und Wellen die Muschelstöcke zerlegen, kommt keine Versicherung für die Schäden auf.
„Das gelbe Boot da drüben sank vergangenen Winter bei einem Sturm“, sagt Paolo und zeigt auf eines der Schiffe, die zwischen den Bojen liegen. Der Kollege rammte bei dem Versuch, während eines Sturms die Bestände zu retten, einen der Stämme, auf denen die Muscheln wachsen. „In wenigen Minuten war es verschwunden“, sagt Paolo. Fast genauso schnell wurde die Besatzung aus dem Wasser gefischt. Später schleppten die Muschelfarmer das havarierte Boot in den Hafen, gegen den ausdrücklichen Rat der Hafenpolizei, die es verloren gab. Es wurde repariert, die Maschine zum Sortieren und Waschen der Muscheln aber behielt das Meer.
Zurück im Hafen gehen die Muscheln zur Kooperative „Casa del Pescatore“ und die Passagiere zu Tisch. Es gibt in Essig, Weißwein und dem süßen Salz Cervias marinierte Sardinen, dann Muscheln, Pasta und schließlich Kuchen. Das Festmahl dauert so lange wie die Fahrt zu den Bänken. Der Wein fließt in Strömen, bald plaudert man an Bord wie unter Freunden, von denen man sich nicht trennen mag. Dann greift Paolo zum Mikrofon. Mit klangvollem Bariton singt er „Con te patiró“ in Leonardos schönen Hafen hinaus.