Endspiel für ein Virus: 2016 könnte die Kinderlähmung besiegt werden
Es geht voran im Kampf gegen Polio. Kein Kind soll nach 2016 mehr durch das Virus gelähmt werden. Aber es versteckt sich in den gefährlichsten Regionen der Welt.
Am dritten Tag der Impfaktion reißt die Bombe mindestens 15 Menschen in den Tod. Die meisten sind Sicherheitskräfte, die ein Polio-Impfzentrum in der pakistanischen Stadt Quetta bewacht haben. Eine Kampagne, die 2,4 Millionen Kinder in der Provinz Belutschistan erreichen soll, wird jäh unterbrochen. Zumindest für einige Stunden. Fast zeitgleich, in einer Stadt rund 200 Kilometer weiter im Nordosten des Landes, nimmt im Januar 2016 ein afghanischer Reisender drei Impfhelfer als Geisel. Sie hatten versucht, seinen Kindern die Tropfen gegen Polio zu geben. Die Polizei muss sie befreien, der Mann kommt ins Gefängnis.
Polio-Impfhelfer sind stille Helden. Allein in Pakistan wurden in den letzten Jahren Dutzende ermordet oder bei Angriffen schwer verletzt. Nach wie vor nehmen sie ein hohes Risiko in Kauf, um Kinder vor der lebenslangen Lähmung zu bewahren. Sie wollen das Virus ein für alle Mal vom Erdball vertreiben. „Das wäre eine der größten Leistungen in der Menschheitsgeschichte“, sagt Aziz Memon, der Leiter des Polio-Plus-Programms der Rotarier in Pakistan. „Wir haben die einzigartige Gelegenheit, das jetzt zu schaffen.“ 2016 soll das letzte Jahr werden, in dem sich ein Kind mit Polio ansteckt. „Wir sind zuversichtlich“, sagt auch der Epidemiologe Rudi Tangermann von der Weltgesundheitsorganisation WHO.
Die Pocken waren in 15 Jahren verschwunden, bei Polio dauert es wohl doppelt so lang
Während die Pocken innerhalb von 15 Jahren Geschichte waren, versucht die WHO gemeinsam mit ihren Partnern in der Global Polio Eradication Initiative (GPEI) bereits seit 1988, diesen Erfolg mit der Kinderlähmung zu wiederholen. „Die Fortschritte sind beachtlich“, sagt Tangermann. In den 1980er Jahren wurden jeden Tag 1000 Fälle gezählt. 2016 waren es bislang insgesamt zehn, acht in Pakistan und zwei in Afghanistan. Es sind die einzigen Länder weltweit, in denen sich Polio noch verstecken kann. Nigeria wurde im August 2015 von der Liste gestrichen, Afrika gilt als poliofrei. Von den drei Virenvarianten wurde Typ 2 im Jahr 1999 zum letzten Mal in der Natur gefunden, seit September 2015 gilt er als ausgerottet. Polio vom Typ 3 wird noch beobachtet, diese Virusvariante wurde zum letzten Mal 2012 nachgewiesen.
Wer Polio endgültig loswerden will, muss sich auf generalstabsmäßig organisierte Manöver einlassen. Eines davon begann am letzten Sonntag. Bis zum 1. Mai werden in 155 Ländern gleichzeitig in jeder Impfstation, jeder Klinik, jeder noch so kleinen Praxis weltweit die Tropfen gegen drei Poliotypen mit der bivalenten Schluckimpfung gegen Typ 1 und 3 ersetzt. „Das ist der umfangreichste und schnellste Wechsel von einem Impfstoff zum anderen, den es jemals gab“, sagt Michel Zaffran, der bei der WHO für das Polioprogramm zuständig ist.
Der "große Wechsel" von Dreifach- zum Zweifachimpfstoff
Anders als die Spritzen gegen Polio, die seit Langem in den Industrienationen verwendet werden, enthalten die Tropfen abgeschwächte Lebendviren. Denn Polioausbrüche lassen sich am besten damit bekämpfen. Zum einen kann jeder Laie einem Kind die Tropfen geben. Zum anderen docken die abgeschwächten Viren im Darm des Kindes an und erzeugen dort eine Immunreaktion. Nach dieser Schluckimpfung wandern die Viren nicht mehr ungehindert durch den Darm. Weil es keine Viren ausscheidet, ist nicht nur das Kind selbst, sondern zusätzlich auch seine Umgebung geschützt.
Bis auf wenige Ausnahmen. Ganz selten verändert sich das Virus plötzlich im Darm des Kindes und macht es krank. Lebt es in einer Krisenregion, in der viele Altergenossen nicht geimpft wurden, kann das sogar einen Ausbruch provozieren – so wie 2015 in der Ukraine. In 90 Prozent der Fälle sind Impfviren vom Typ 2 schuld. Deshalb legen die Gesundheitsschützer so großen Wert darauf, dass in allen 155 Ländern gleichzeitig aus der Dreifach- eine Zweifachimpfung wird. „Das macht die Tropfen sicherer und effektiver“, sagt Stephen Cochi von der amerikanischen Seuchenbehörde CDC. Ohne die unnötige Konkurrenz steige die Chance, dass die Kinder eine Immunität gegen jene Viren aufbauen, die noch in der Natur vorkommen.
Boko Haram, Al Shabaab, Taliban - Polio ist dort, wo es besonders gefährlich ist
Nicht nur dieser „große Wechsel“ der Impfstoffe, sondern jede einzelne Impfkampagne muss minutiös geplant und ausgeführt werden. Herausforderungen gibt es in Pakistan zuhauf, in den Slums einer Metropole wie Karatschi, in die viele Paschtunen geflüchtet sind, wie in den Stammesgebieten im Grenzgebiet zu Afghanistan (FATA, siehe Karte) oder dem Block um Quetta in Belutschistan, aufgrund von Angriffen, Massenfluchten und hartnäckigen Gerüchten.
„Polio zieht sich per Definition in jene Gebiete zurück, die am gefährlichsten sind“, sagt Jay Wenger, der Direktor des Polioprogramms der Bill and Melinda Gates Foundation. Im Norden Nigerias hatten die Impfhelfer es mit Boko Haram zu tun, im Sudan mit Al Shabaab. In Syrien und im Irak mussten sie ebenfalls zwischen den Frontlinien agieren. Erfolgreich. „Das ist wie ein sehr elaborierter Tanz“, sagt Wenger. Beim Ausbruch in Somalia zum Beispiel bildeten die Teams Ringe um die Gebiete, die unzugänglich waren, und impften an den Straßensperren. Sobald sich die Fronten verschoben, suchten sie schnell in den zuvor abgeschirmten Dörfern und Städten nach Kindern und gaben ihnen die Schluckimpfung. Wo es keine klaren Linien gibt, identifizieren die Teams Vertrauenspersonen, denen sie den Impfstoff übergeben und die dann die Aufgabe in ihrer Nachbarschaft übernehmen.
Um den Überblick zu behalten, gibt es Mikropläne, wer wo von Haus zu Haus gehen soll. Sie werden in regionalen und nationalen Notfallzentren koordiniert. Im Norden Nigerias waren es die Polio-Impfhelfer, die mithilfe von Handys und GPS-Daten erstmals seit der britischen Kolonialzeit kartierten, wer wann wo lebt – inklusive der Nomaden.
Die Impfhelfer werden beschuldigt, sie wollten Muslimen schaden
Auch Impfgegner sind nichts Neues. Immer wieder gab es Gerüchte, der Westen wolle Muslime sterilisieren. Bestandteile der Tropfen seien unrein. Die Impfhelfer seien Spione. In Pakistan kam erschwerend hinzu, dass die CIA eine Impfaktion gegen Hepatitis B nachstellte, um Osama bin Laden aufzuspüren. Mit tödlichen Folgen für die Polio-Impfhelfer. Um dem entgegenzutreten, bezieht die GPEI daher nicht nur die höchsten islamischen Gelehrten und Geistlichen ein, sondern zusätzlich die Imame vor Ort.
Manchmal geht es aber um völlig andere Dinge, wenn den Impfhelfern der Zugang zu einer Region oder einem Ort verweigert wird. Die Schule habe keinen Direktor. Die Straße müsse erst saniert werden. Man solle endlich die Mücken bekämpfen, die Dengue übertragen. In Pakistan waren lange eine halbe Million Kinder in den Stammesgebieten unerreichbar, weil die Taliban forderten, zuerst sollten die Drohnenangriffe aufhören.
Selbst an einem Bergpass nach Afghanistan gibt es Impfstationen
Inzwischen hat sich die Situation geändert. Die Stammesgebiete sind fast vollständig zugänglich, zumindest auf pakistanischer Seite. Selbst am Chaiber-Pass zwischen Peschawar und Dschalalabad gibt es Impfstationen. „Dort herrscht immer noch ein Klima der Angst“, sagt Tangermann. „Es ist für die Teams nicht einfach, sich dort zu bewegen. Aber sie involvieren Menschen vor Ort, die ihre Nachbarn kennen und denen man vertraut.“
Seit die WHO Polio 2014 zum globalen Gesundheitsnotfall erklärt hat, engagieren sich vom Premierminister bis zu den lokalen Anführern alle Ebenen für den Kampf gegen Polio. „Besser hat es das dort noch nie geklappt“, sagt Tangermann. Nun brauche das Land Unterstützung, um das aufrechtzuerhalten. Damit 2016 wirklich das letzte Jahr ist, in dem sich ein Kind mit Polio ansteckt.