Neue Regeln für Google & Co.: Zeit ist Macht
Die Aufmerksamkeit von Nutzern ist für Techkonzerne entscheidend. Wettbewerbshüter könnten das in Zukunft berücksichtigen.
„Zeit ist Geld“, das weiß auch die Google-Suche. Gibt man „Zeit ist …“ in das Suchfeld ein, erscheint das geflügelte Wort automatisch als erster Vorschlag der sogenannten Autocomplete-Funktion. Die Vervollständigungsvorschläge ersparen das weitere Tippen und damit wertvolle Millisekunden. Auch an anderen Stellen hilft Google beim Zeitsparen und zeigt inzwischen mit eigenen Boxen zu immer mehr Themenfeldern mögliche Antworten auf die Fragen der Suchenden direkt an – ob aktuelle Fußballergebnisse, Wettervorhersagen oder eine Maske zur Flugsuche.
165 Unternehmen und Verbände gegen Google
Was für Nutzer praktisch und komfortabel sein mag, wird für immer mehr Unternehmen zum Problem. Denn während Google einst angetreten ist, das Wissen des Internets zu strukturieren und Nutzer auf die für sie relevantesten Webseiten zu lotsen, wird der Konzern so immer mehr zur zentralen Informationsplattform. „Das Unternehmen behält Nutzer künstlich in seinem Dienst und hält sie von einem Besuch anderer, relevanterer Dienste ab“, beklagten gerade 165 Verbände und Unternehmen wie Stepstone, Flixbus oder Wetter.com in einem Brief an die EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager.
„Google nimmt uns wichtige Zeit mit unseren Kunden weg und dringt immer weiter in die Reisebranche vor“, klagt Mitunterzeichner Johannes Reck, Chef von Getyourguide. Das Start-up vermittelt für den Urlaub Reiseführer oder Museumstickets. Doch Google experimentiert schon mit einem ähnlichen Angebot, indem mögliche Aktivitäten zu Urlaubszielen angezeigt werden. Reck fürchtet verdrängt zu werden oder immer mehr Werbegelder zahlen zu müssen, um bei Google weiter angemessen berücksichtigt zu werden. Diese Sorge treibt auch andere deutsche Anbieter wie Trivago oder Holidaycheck und sogar die Branchenriesen Booking.com und Expedia um, die mit jährlichen Werbeausgaben in Milliardenhöhe selbst zu Googles größten Kunden zählen.
Die Wettbewerbshüter können diesen Entwicklungen bislang oft nur zusehen, da Google seine Dienste kostenlos anbietet, also kein eigenes Geschäftsmodell daraus macht. Doch die Unternehmen sorgen sich, dass neue Funktionen später monetarisiert werden könnten, sie dann beispielsweise wie beim beanstandeten Google-Shopping-Dienst zahlen müssen, um in den Ergebnisboxen aufzutauchen. „Wir haben dieses Vorgehen seit einer Dekade gesehen“, sagt Reck. „Das muss jetzt reguliert werden, sonst ist es zu spät, wenn wieder Unternehmen aus dem Markt gedrängt sind.“
Zeit als Indikator für Marktmacht?
Um dem vorzubeugen, schlägt der Gründer vor, dass Kartellbehörden Marktmacht anhand eines neuen Kriteriums definieren. „In der Datenökonomie reicht es nicht mehr, zu schauen, wie viel Umsatz ein Unternehmen macht“, sagt Reck. Stattdessen sollte die Zeit betrachtet werden, die Nutzer aktiv auf Plattformen und Diensten verbringen.
Die Idee wird seit einiger Zeit diskutiert und könnte womöglich schon bald in das deutsche Wettbewerbsrecht aufgenommen werden. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen wird derzeit überarbeitet und bei der so genannten GWB-Novelle wird auch eine Berücksichtigung der Nutzerzeit geprüft. „Die aktive Nutzungszeit ist ein Kriterium, das bei vielen Gatekeepern passt“, sagt Hansjörg Durz, digitalpolitischer Sprecher der CSU.
Am heutigen Mittwoch gab es dazu eine Bundestagsanhörung im Wirtschaftsausschuss. Als Sachverständiger geladen war dabei auch Anselm Rodenhausen, Kartellrechtler bei Zalando. Der Konzern setzt sich seit Langem für das Konzept ein und schlägt vor, man sollte beim Schlüsselparagrafen 19a die „Total Consumer Time (TCT)“ als Kriterium zur Feststellung einer überragenden marktübergreifenden Bedeutung berücksichtigen.
Viele Digitalplattformen messen ohnehin die Nutzerzeiten und weisen sie teilweise sogar in ihren Geschäftsberichten aus. Dies könne laut Zalando als Frühindikator auf Marktmacht hinweisen, die sich bei Umsatz oder Marktanteil noch nicht zeigt. So hätten beispielsweise viele soziale Netzwerke erst Nutzer und deren Aufmerksamkeit gewonnen, bevor sie diese erfolgreich monetarisiert haben. Gerade für hauptsächlich werbefinanzierte Angebote sei die Nutzerzeit ein Schlüsselfaktor zum Erfolg.
„Auch viele Eigenschaften und Auswirkungen von digitalen Produkten, die wir politisch und gesellschaftlich diskutieren, gehen auf die Optimierung nach Zeit zurück“, erklärte Rodenhausen. Ein Beispiel dafür seien Filterblasen. „Sie sind entstanden, weil festgestellt wurde, dass Menschen länger auf einer Plattform bleiben, wenn sie Inhalte angezeigt bekommen, die sie mögen und dem gleichen, was sie zuvor gesehen haben.“
„Die vermutlich wichtigste Währung im Plattform-Markt, insbesondere bei werbefinanzierten digitalen Angeboten, ist die Aufmerksamkeit der Nutzer“, erklärt auch der Bundesverband Deutsche Start-ups. Der Zeitanteil, den ein Nutzer auf dem Angebot oder innerhalb eines Ökosystems eines marktbeherrschenden Players verbringe, sei daher „ein guter Indikator für Monopolisierungstendenzen auf diesem Markt“. Zudem könne dieser Faktor Wettbewerbsverzerrungen Vorschub leisten, da dominante Unternehmen die Aufmerksamkeit des Nutzers auf eigene, andere Angebote lenken. „Marktmacht kann so marktübergreifend manifestiert und ausgebaut werden.“
Netflix-Gucken soll keine Rolle spielen
Die Idee wird nun auch politisch geprüft, doch es gibt noch eine Reihe an Vorbehalten. „Man sollte das durchdenken, aber ich bin da noch skeptisch“, sagt Falko Mohrs (SPD). Bei sozialen Netzwerken wäre die Nutzerzeit ein passender Indikator, aber an anderer Stelle könnte sie kontraproduktiv sein, fürchtet der Abgeordnete. „In den App Stores verbringen Nutzer wenig Zeit, trotzdem gibt es zwei dominante Gatekeeper.“
Der CSU-Experte Durz verweist zudem auf Musik- und Filmstreamingdienste, wo Nutzer überdurchschnittlich viel Zeit verbringen, ohne dass es sich zwingend um Monopolisten handelt. „Ich habe grundsätzlich Sympathie für diesen Vorschlag, sehe aber noch viele ungelöste Fragen.“
Auch die Befürworter der Idee wollen damit nicht stundenlanges Netflix-Gucken durch das Kartellrecht beschränken. Es gehe um die aktive Nutzerzeit, entgegnen sie. „Das ist diejenige Zeit, in der ein Unternehmen etwas über den Nutzer lernt, weil er klickt, scrollt oder sich sonst irgendwie erfassbar verhält“, erklärt Rodenhausen. Wenn ein Film läuft oder Musik gehört wird, lernt das Unternehmen nichts, weil der Nutzer in dieser Zeit nicht mit der Plattform interagiert. Werbefreies Streamen oder irgendwann auch autonomes Fahren würde also nicht darunter fallen.
Auch Europa plant strenge Regeln
Inspiration und Ergänzungen könnte es auch noch aus Europa geben. So werden die Überlegungen zum geplanten Digital Markets Act genau angesehen. „Gute Ideen werden wir ganz bestimmt aufgreifen“, sagt Durz. So werde man „Bündelungspraktiken“ und „dadurch entstehende Wettbewerbsverzerrungen“ genau analysieren. Zudem müsse es möglich sein, Apps zu deinstallieren, die nicht relevant für grundlegende Funktionen eines Gerätes sind.
Viel Zeit bleibt allerdings nicht mehr. „Das Verfahren soll möglichst noch vor Weihnachten abgeschlossen werden“, sagt Mohrs. Dann ist auch klar, ob die Wettbewerbsbehörden künftig genauer hinschauen, wie Nutzerzeit zu Marktmacht und Geld wird. Und womöglich wird das auch zurückgespielt und beim Digitale-Dienste-Gesetz der EU wieder ein Thema.