Verkehrswende: Wunsch und Wirklichkeit
Klimawandel und Luftverschmutzung machen die Verkehrswende unerlässlich. E-Mobilität soll sie voranbringen – doch der Markt ist kaum entwickelt.
Der politische Wille ist vorhanden, und im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung auf Seite 77 dokumentiert: „Wir wollen die Elektromobilität (batterieelektrisch, Wasserstoff und Brennstoffzelle) in Deutschland deutlich voranbringen und die bestehende Förderkulisse, wo erforderlich, über das Jahr 2020 hinaus aufstocken und ergänzen.“
Es folgen weitere Sätze, in denen CDU/CSU und SPD „wir wollen“ und „wir werden“ schreiben – mehr Ladesäulen, eine Batteriezellenfabrik, Abschreibungsmöglichkeiten, Förderung, Steuererleichterungen. Und: „Wir wollen Fahrverbote vermeiden und die Luftreinhaltung verbessern.“ Genug zu tun also in der laufenden Legislaturperiode. An deren geplantem Ende – im Jahr 2021– sollen auf deutschen Straßen wenn schon keine Million, dann wenigstens einige 100 000 Elektroautos rollen. Die Politik verlässt sich dabei nicht nur auf ihren eigenen Gestaltungswillen, sondern auch auf die Ankündigungen der Autoindustrie.
Die Hersteller haben Großes vor: Volkswagen will bis 2025 bis zu drei Millionen E-Autos pro Jahr bauen und 80 neue elektrische Modelle auf den Markt bringen. BMW plant, Ende 2019 eine halbe Million Elektrowagen und Plug-in-Hybride auf der Straße zu haben; bis 2025 sollen 25 elektrische BMW- und Mini-Modelle vom Band rollen. Mercedes will bis 2022 mehr als zehn Elektromodelle anbieten, deren Anteil am Gesamtabsatz bei 15 bis 25 Prozent liegen soll. Andere Autobauer nehmen sich Ähnliches vor. Nissan etwa, das Partnerunternehmen von Renault, hat kürzlich einen jährlichen Absatz von einer Million elektrifizierter Autos ab 2022 angekündigt. Die Allianz Renault-Nissan-Mitsubishi plant zusammen 17 neue Elektroautos.
Nur gut 98 000 Fahrzeuge waren es Anfang des Jahres, die per Definition als "Elektroautos" durchgehen
Beim Blick auf die Straßen der Gegenwart wird aber deutlich, wie weit der Weg aus der Nische zum internationalen Leitmarkt für Elektromobilität noch ist. Dieser Befund ist nicht neu. Angesichts der anspruchsvollen Pläne deutscher Hersteller lohnt sich aber eine aktuelle Bestandsaufnahme. Anfang des Jahres waren hierzulande rund 240 000 elektrifizierte Pkw angemeldet. Nimmt man nur die reinen Batteriefahrzeuge und die extern aufladbaren Plug-in-Hybride, waren es nur gut 98 000 Fahrzeuge, die per Definition als „Elektroautos“ durchgehen. Der Bestand verdoppelte sich 2017 – allerdings auf sehr niedrigem Niveau. Aktuell liegt der Elektroanteil am gesamten Autobestand in Deutschland bei 0,2 Prozent und an den Neuzulassungen im vergangenen Jahr bei 1,6 Prozent. Die neuen Elektroautokäufer haben sich lange bitten und zuletzt von Elektro- und Dieselabwrackprämien überzeugen lassen. Aber auch hier hatte sich die Politik mehr erhofft. 600 Millionen Euro an Kaufprämien („Umweltbonus“) sind seit Mitte 2016 im Fördertopf, den Bund und Industrie je zur Hälfte gefüllt haben. Aber nur rund 82 Millionen Euro wurden bis Mitte März beim zuständigen Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) abgerufen. Sehr wahrscheinlich wird auch im Juli 2019, wenn die Förderung enden soll, noch viel Geld übrig bleiben. Das Bafa hat deshalb eine Umwidmung vorgeschlagen: mit einem Teil des Geldes soll auch der Bau von privaten Ladesäulen gefördert werden. Der Bund will hier einen Zuschuss von 100 Millionen Euro geben.
China hat seinen Vorsprung auf dem Markt für Elektromobilität vor dem Rest der Welt sogar ausgebaut
Im Bundesverkehrsministerium denkt man außerdem über eine Erhöhung des Umweltbonus für gewerbliche Käufer auf 8000 Euro nach. Autobauer wie Volkswagen wären bereit, ihren Anteil zusätzlich zu leisten. Ist von einer Mobilitätswende derzeit auch wenig zu sehen, so sind sich die Experten doch einig, dass die Zukunft elektrisch, digital und vernetzt sein wird. Befragt nach den zukünftigen Geschäftsmodellen antworteten 66 Prozent der Unternehmen in einer Umfrage des Beratungsunternehmens PWC: Elektromobilität. Auf Rang zwei folgten autonomes Fahren/Fahrerassistenzsystem sowie Connected Vehicles/digitale Serviceplattformen. „Die E-Automärkte werden sich weltweit weiter dynamisch entwickeln“, sagt Nicolai Müller von McKinsey. Der Berater zeigt in seinem aktuellen Electric Vehicle Index auch, wer der Treiber dieser Entwicklung ist: China. Staatlich massiv gefördert, hat der chinesische Markt für Elektromobilität seinen Vorsprung vor dem Rest der Welt sogar ausgebaut. Mehr als 600 000 neue E-Fahrzeuge wurden 2017 dort zugelassen, mehr als zehn Mal so viele wie in Deutschland. Sowohl bei der Nachfrage als auch beim Angebot liegt China weit vorne. Knapp 100 verschiedene Modelle, meist von heimischen, in Europa überwiegend unbekannten Herstellern, sind auf dem Markt. Im McKinsey-Ranking steht die Volksrepublik in der Kategorie Industrie auf Platz eins – vor Japan und Deutschland. Anders verteilen sich die Kräfte in der Kategorie Markt: Hier liegt China hinter Norwegen auf Platz zwei, während Deutschland es nur auf Rang zwölf schafft, hinter Ländern wie der Schweiz, den Niederlanden oder Belgien.
Der Ausstieg von Bosch aus der Forschung und Entwicklung für die eigene Batteriezellproduktion hat die heimische Branche geschockt
Anders als in Europa prägen in China kleine, elektrische und preiswerte Stadtautos und E-Busse den Markt für batteriebetriebene Fahrzeuge. Beides ist bei uns Mangelware, wird aber gerade zur Luftverbesserung und Vermeidung von Fahrverboten in den Metropolen dringend gebraucht. Chinesische Megacitys leiden besonders unter verpesteter Luft. Doch die dortige staatliche Förderung der Elektromobilität habe noch ein stärkeres Motiv, glaubt Stefan Bratzel vom Center of Automotive Management (CAM): „Industriepolitische Motive spielen eine Hauptrolle, wie die Unabhängigkeit von Ölimporten und die Herausbildung von global tätigen Automobilherstellern und Zulieferern mit Elektrokompetenz aus China.“ Gerade die asiatische Kompetenz in einem Schlüsselbereich der Elektromobilität – bei der Produktion von Batteriezellen – verdeutlicht, wie groß in Europa noch die Kluft zwischen gutem Willen und Wirklichkeit ist. Mit CATL aus China und LG Chem aus Südkorea haben sich zwei Zellenlieferanten als Marktführer etabliert, die Verträge mit allen relevanten Autobauern haben. Zumindest in der aktuellen und noch einige Jahre vorherrschenden Lithium-Ionen-Technologie wird hier kein neuer Wettbewerber eine Chance haben.
Der Ausstieg von Bosch aus der Forschung und Entwicklung für eine eigene Zellproduktion hat der heimischen Branche einen Schock versetzt. Umso bemerkenswerter ist der Optimismus in der Politik: „Die Ansiedlung einer Batteriezellfertigung ist für Deutschland und Europa ein wichtiges wirtschafts- und industriepolitisches Handlungsfeld“, heißt es im Koalitionsvertrag. Man hofft auf die EU, die nach dem Vorbild der Mikroelektronik-Förderung ein entsprechendes Programm für die Batteriezellenfertigung aufsetzen soll. Ob die deutsche Autoindustrie mit der nächsten Generation von Batterien aber auch den werthaltigsten Kern des Elektroautos selber produzieren kann, ist unklar. Nur dann, sagen Experten, wäre die Mobilitätswende auch industriepolitisch für den Standort Deutschland ein Erfolg.
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