Krankenkassen: "Wir wollen Zusatzbeiträge vermeiden"
Uwe Deh, Finanzvorstand des AOK-Bundesverbands, über die verfehlte Gesundheitspolitik der Regierung, schlechte Kliniken und teure Ärzte.
Herr Deh, der Gesundheitsminister der schwarz-gelben Koalition will, dass sich künftig jeder unabhängig vom Einkommen privat versichern darf. Drücken Sie jetzt Rot-Grün die Daumen für die Wahl?
Eine private Krankenversicherung für alle würde keines der Probleme lösen, genauso wenig wie eine gesetzliche Versicherung für alle, zumindest nicht in der derzeitigen Form. Die Frage ist doch, wie sich ein gemeinsamer Versicherungsmarkt organisieren lässt. Das macht man nicht mit Parolen, die aber wohl auch dem Umfeld eines Schülerzeitungsinterviews geschuldet sind.
Warum soll sich denn nicht jeder frei und unabhängig von seinem Einkommen entscheiden dürfen, ob er sich privat oder gesetzlich versichert?
Wahlfreiheit ist immer gut. Wir haben sie momentan aber nur in der gesetzlichen Krankenversicherung. Im privaten System gibt es sie nicht. Die größte Unfreiheit erlebt man, wenn man einmal PKV-Versicherter geworden ist – weil man dort dann schon bald den Versicherer nicht mehr wechseln kann. Ein System, in dem die Freiheit der Versicherten so extrem eingeschränkt ist, kann nicht die Blaupause sein für den Krankenversicherungsmarkt der Zukunft.
Gesetzlich Versicherte klagen über lange Wartezeiten, Privatversicherte darüber, dass sie überversorgt werden, aber ihre Beiträge nicht mehr zahlen können. Aber noch mal gefragt: Warum lässt man den Bürger nicht selber entscheiden? Trauen Sie ihm das nicht zu?
Ich finde, wir sollten den Bürgern nicht eine Diskussion aufs Auge drücken, die bloß eine Entscheidung zwischen zwei juristischen Modellen zum Inhalt hat. Es geht doch um die Zukunft der Gesundheitsversorgung und die Rolle der Krankenversicherung dabei. Wie erhalten wir die Versorgung auf dem Land, wie reagieren wir auf die demografische Entwicklung, wie sichern wir die Finanzierung? Es geht nicht um GKV oder PKV, also gesetzlich oder privat, sondern um einen gemeinsamen Versicherungsmarkt mit einheitlichen Rahmenbedingungen für alle.
Mit einheitlichen Ärztehonoraren für die gleiche Leistung?
Klar, das muss dann so sein. Wogegen wir kämpfen werden ist, dass der Patient – wie in der PKV üblich – für die Ärzte Gegenstand von Honoraroptimierung ist. Das Überangebot an Diagnostik und teilweise fragwürdiger Behandlung, wie es in der PKV-Vergütung geradezu angelegt ist, bringt uns nicht weiter.
Die PKV verweist auf ihre Rückstellungen und dass sie damit generationengerecht aufgestellt ist. Wie wollen Sie denn die demografischen Probleme schultern?
Auch die PKV muss einräumen, dass mit ihren Rückstellungen die individuelle Versorgung im Alter nur zu einem Bruchteil ausfinanziert ist. Und mit den Erfahrungen der Finanzkrise der letzten Jahre sieht man, dass Umlagesysteme eigene Stabilität entfalten. Ich kann mir in Deutschland keine Gesellschaft vorstellen, die 30 oder 40 Prozent der Bürger verelenden lässt.
Heißt das, der Staat muss stärker einspringen, wenn es weniger Beitragszahler gibt?
Die Demografieprobleme gibt es überall, und natürlich muss die Lösung auch eine Aufgabe des Staates sein. In der Krankenversicherung sollte die Demografie aber unbedingt auch Impulsgeber sein, um Versorgung weiterzuentwickeln. Wir haben heute zum Beispiel viel zu wenig altengerechte Medizin. Aber das muss rein in den Standardbetrieb, wir brauchen kein neues Kästchen für alte Menschen. Dann bleibt der Demografieeffekt weiter beherrschbar . Die Leistungssteigerung, die daraus resultiert, konnten wir auch in den letzten Jahrzehnten immer finanzieren. Das größere Problem ist das unbewertete und ungesteuerte Einströmen neuer Behandlungsmethoden.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel hat man eine Zeitlang Stents in Hirngefäße eingebaut, um Schlaganfällen vorzubeugen. Eine extrem teure und aufwändige Methode, die wir bezahlen mussten. Und am Ende hat man festgestellt, dass dadurch die Schlaganfallrate nicht sinkt, sondern steigt.
Warum die AOK ihren Versicherten nichts zurück zahlt
Momentan steht die AOK finanziell ganz prächtig da, im ersten Halbjahr haben Sie schon wieder Überschüsse von mehr als 600 Millionen erwirtschaftet. Wie haben Sie das geschafft – trotz Wegfalls der Praxisgebühr?
Wir haben gerade erlebt, dass die Bundesregierung wieder Geld mit vollen Händen ausgibt, um damit dann alle Probleme zuzukleistern. Aber es ist weder gut für die Beitragszahler noch für die Weiterentwicklung der Versorgung. In solcher Situation zeigt sich, wie schädlich die optimierten Verteilungskämpfe der Lobbyisten sind..
Wenn zuviel Geld da ist, müsste die logische Konsequenz doch sein, dass die AOK ihren Versicherten Prämien zurückerstattet. Das tut sie bis heute nicht.
Die Versicherten erwarten, dass mit diesem Geld sinnvoll umgegangen wird. Wir haben uns nicht an dem Zusatzbeitrags-Vermeidungswettbewerb beteiligt, sondern in die Versorgung investiert und neue Angebote aufgebaut, für die man eine gewisse Anschubfinanzierung braucht.
Ist der Krankenkassenbeitrag zu hoch? Was würde denn reichen?
Das kann man schwer sagen. Die Politik hat ja vor der Wahl noch einige Geschenke verteilt, etwa 1,1 Milliarden Euro an die Krankenhäuser. Man muss erst einmal abwarten, wie sich das auswirkt. Unser Überschuss hat sich im Vergleich zum Vorjahr deutlich reduziert und entspricht ziemlich genau der Summe, die wir in drei Tagen für die Versorgung unserer Versicherten aufwenden.
Drohen AOK-Versicherten im nächsten Jahr Zusatzbeiträge?
Wir wollen unseren Versicherten das ersparen, so lange es geht. Dafür haben wir ja unsere Überschüsse. Die Versicherten sind bereit, für eine gute Versorgung zu zahlen. Aber nicht unbegrenzt. Ich habe den Eindruck, dass die Vertreter der Ärzte und der Krankenhäuser bei den Honorarverhandlungen ausblenden, von wem das Geld letztlich kommt.
Verdienen die Ärzte zu viel?
Das kann man nicht pauschal sagen. Aber es gibt keinen Grund, warum die Ärzteeinkommen per se jedes Jahr um vier Prozent steigen müssen, wenn andere Berufsgruppen Lohneinbußen verkraften müssen.
Für welchen Bereich geben Sie am meisten aus?
Die stationäre Versorgung. Zwischen Ländern, Kommunen und Bundesebene ist ein richtiger Blockadedschungel entstanden. Wir haben ein modernes Preissystem, die Fallpauschalen funktionieren gut. Aber die Krankenhausplanung der Länder und die Investitionsplanung sind aus dem letzten Jahrhundert.
Weil jeder Bürgermeister eine Klinik will?
Vor allem, weil am Bedarf der Menschen vorbei geplant wird. Wir haben viele Krankenhäuser. Dennoch ist die Versorgung der Patienten nicht optimal. Das müssen wir ändern. Ein erster Schritt wäre die Lockerung des Kontrahierungszwangs.
Was heißt das?
Wenn heute ein Patient ins Krankenhaus geht, müssen die Kassen zahlen – egal, ob das Ergebnis der Behandlung gut oder schlecht ist.
"Wir brauchen ein Krankenhaus in der Uckermark"
Wir haben jetzt schon eine Landflucht in Deutschland. Wenn Sie jetzt noch die Krankenhäuser in der Uckermark oder in der Lausitz zumachen, müssen die Leute nach Berlin! Vor allem die älteren, die häufiger krank sind.
Ich will doch gar nichts zumachen. Im Gegenteil. Wir brauchen das Krankenhaus in der Uckermark und auch die Klinik in der Altmark. Aber nicht um dort hoch komplizierte Eingriffe zu machen, sondern als Anlaufstelle für die Basisversorgung der Menschen. Krankenhäuser werden für die Versorgung auf dem Land immer wichtiger. Morgen wird es nicht mehr in jedem Dorf und auch nicht mehr in jedem zweiten einen Hausarzt geben. Diese Lücke müssen die Kliniken schließen, indem sie auch ambulante oder teilstationäre Behandlungen anbieten.
Warum passiert das nicht?
Die Länder haben keine Vision, wie sich die Krankenhäuser entwickeln sollen. Statt Kliniken bedarfsgerecht umzubauen, kürzen sie ihre Investitionen. Die Kliniken müssen ihre Investitionen selbst erwirtschaften, indem sie mehr Menschen behandeln oder operieren.
War die Milliardenspritze des Bundes für die Kliniken ein Fehler?
Ja, weil sie nur dazu dient, die überkommenen Strukturen aufrechtzuerhalten.
Auf dem Klinikmarkt will Fresenius seine private Kliniktochter Helios mit Rhön-Klinikum verschmelzen. Wie sähen Sie einen solchen privaten Riesenkonzern?
Man muss sich sozialpolitisch überlegen, wie viele private Player man haben will. Denn die privaten Anbieter sind gezwungen, Gewinne zu erwirtschaften. Und das sind Gewinne, die mit solidarisch bereit gestellten Beitrags- und mit Steuergeldern gemacht werden. Aber das ist eine sozialpolitische Frage. Was unsere Erfahrung mit den Kliniken angeht, so sehe ich keine Qualitätsunterschiede zwischen den Trägern. Es gibt überall gute und schlechte Häuser.
Was müsste die neue Regierung nach der Wahl als erstes anpacken?
Sie müsste die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen. Sie müsste aufhören, in Kästchen zu denken und die Patienten dort reinzustopfen. Und anfangen sollte die neue Bundesregierung bei den Kliniken.
Uwe Deh (47) ist im Vorstand des AOK-Bundesverbandes für die Bereiche Versorgung und Finanzen zuständig.
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