Siemens-Technikchef Roland Busch im Interview: „Wir wissen, wo in zehn Tagen eine Zugtür ausfällt“
Siemens-Technikchef Roland Busch über Künstliche Intelligenz als Jobmaschine, die Power Chinas - und Schuhe aus Deutschland.
Herr Busch, Siemens war in den 1990er Jahren Vorreiter bei Künstlicher Intelligenz (KI). Ärgern Sie sich, dass dieser Vorsprung verspielt wurde?
Nein, weil wir nichts verspielt haben. Es stimmt, dass wir seit 30 Jahren an dem Thema arbeiten. Und heute zählt Siemens zu den führenden Unternehmen im Bereich der industriellen KI. Das Thema kommt jetzt allerdings immer mehr in Mode, weil es die Rechenkapazitäten und genug verfügbare Daten gibt, um den Algorithmen Leben einzuhauchen und großartige Dinge damit zu tun.
Googles KI hat die Meister im Strategiespiel Go besiegt, wieso kennt man von Siemens solche Geschichten nicht?
Man muss unterscheiden, wie KI genutzt wird. Die großen IT-Plattformen setzen es auf anderen Gebieten ein, unser Fokus liegt im industriellen Bereich. Da sind wir sehr gut unterwegs, das bekommt derzeit richtig Schwung.
Wo genau kommt KI zum Einsatz?
Da gibt es viele Beispiele. KI hilft uns, komplexe Stellwerke optimal zu planen, Tumore in tausenden Aufnahmen von Computertomografen zu erkennen oder die Schadstoffemissionen von Turbinen zu optimieren. Am bekanntesten ist wohl predictive maintenance, also vorausschauende Wartung. Den Betreibern von Zügen bereiten ausfallende Türen die größten Kopfschmerzen. Durch KI- Algorithmen können wir jetzt zehn Tage vorher voraussagen, wo das passieren wird und warum. Die Betreiber können dann rechtzeitig die Wagen reparieren. Das gibt es in immer mehr Bereichen.
Nämlich?
Bislang haben die Servicemitarbeiter nach einer bestimmten Stundenzahl die Schaufeln einer Gasturbine ausgetauscht. Doch jetzt analysieren wir die Daten aus 1500 Sensoren und können ohne hereinzuschauen sagen, wie der Zustand ist und wie lang man die Schaufel noch laufen lassen kann. Wir haben sogar schon über KI die Turbine selber steuern lassen, und die Computer konnten es teilweise besser als die Ingenieure.
Die dürften sich nun um ihren Job sorgen. Wie viele Arbeitsplätze werden durch Computer und Roboter ersetzt?
Ich bin überzeugt davon, dass KI eine Jobmaschine ist, die mehr Arbeitsplätze kreiert als eliminiert. Natürlich werden bestimmte Jobs wegfallen, die ein Computer besser machen kann. Doch gerade Roboter werden Menschen nicht komplett ersetzen, sondern wir werden mit digitalen Begleitern arbeiten. Unter dem Strich wird es aber mehr Arbeit geben, etwa weil die Technologien das Wirtschaftswachstum befördern.
Wie erkennt man, dass sein Job gefährdet ist und was sollte man dann tun?
Bei vielen Aufgaben, die repetitiv sind und wo es wenig Kreativität braucht, werden Computer besser werden. Doch im kreativen Bereich wird der Mensch dem Computer noch auf lange Jahre überlegen bleiben. Der Mensch hat Fähigkeiten, die wir unterschätzen. Die Arbeitsinhalte werden sich allerdings ändern, daher ist Weiterbildung das große Thema. Wir investieren deswegen schon über 500 Millionen Euro in die Ausbildung und das Training unserer Mitarbeiter und das werden wir auch noch erhöhen.
Sie haben die Forschungsfelder von 50 auf 14 konzentriert. Wie stark wurden dadurch die Ressourcen für KI erhöht?
Wir geben da deutlich mehr Gas, aber auch bei anderen Zukunftstechnologien wie Digitalen Zwillingen. Dadurch haben wir die Summen umgesteuert und investieren jetzt jährlich 500 Millionen Euro in diese 14 Felder. KI ist dabei ein Bereich, in den wir definitiv weiter überproportional investieren werden.
Und wie viele Leute arbeiten daran?
Wir haben bei Siemens inzwischen 500 ausgewiesene KI-Experten, und wenn wir weitere gute Leute finden, werden wir die einstellen.
Können Sie dabei mit Google, Amazon & Co. mithalten?
Es ist ein sehr umkämpfter Markt und man muss die Experten sehr gut bezahlen. Wir haben aber neulich erst wieder einen großartigen Experten geholt, der vorher eine Schlüsselfunktion bei einer der IT-Firmen hatte.
Wie sehen Sie die Stellung von Deutschland in Sachen KI?
Wir stehen nicht schlecht da, aber müssen aufpassen. In China gibt es gerade einen riesigen Schub. Wenn wir vorne mit dabei bleiben wollen, müssen wir Fahrt aufnehmen.
Ist China der größere Wettbewerber als die USA?
Das Land hat 1,4 Milliarden Menschen, davon studieren mehr als Deutschland Einwohner hat. Nehmen sie davon nur ein halbes Prozent der Besten, dann ist klar, was für ein potenzielles Know-how von den Universitäten kommt.
Die Bundesregierung arbeitet an einer KI-Strategie. Was darf dabei nicht fehlen?
Es ist sicher notwendig, mehr Gelder in die Forschung zu lenken. Dann muss man den Schulterschluss zwischen Industrie und Forschung weiter stärken. Es geht auch um bessere Kommunikation. Oft dreht sich die Diskussion nur um den Wegfall von Arbeitsplätzen. Wenn wir in diesem defensiven Modus bleiben, haben wir ein Problem. Alle Technologien, ob Dampfmaschine oder Elektromotor, haben zwar Jobs vernichtet, aber letztlich viel mehr Arbeit geschaffen. So wird es auch diesmal sein und wir als reife Industriegesellschaft haben sogar die Chance, wieder Arbeit zurückzuholen.
Woran denken Sie da?
Schuhe. Wer hätte denn vor fünf Jahren gedacht, dass Adidas wieder eine Fabrik in Deutschland baut? Jetzt hat Adidas mit unserer Hilfe die speed factory gebaut, da kommt eine Kombination aus Technologien wie KI, Industrie 4.0 oder 3D-Druck zusammen. Gerade die individuelle Fertigung bietet große Chancen. Inzwischen werden bei uns auch Teile vom Computer generiert, die könnte ein klassischer Ingenieur nie so bauen. Es gibt ein paar Vorgaben und dann spuckt das System völlig neue Designs aus, die nur mit 3D- Druck hergestellt werden können, aber beispielsweise viel weniger Material brauchen.
Die Bundeskanzlerin weist darauf hin, dass KI ohne Daten nicht funktioniert. Hindert Sie der Datenschutz?
In der Industrie haben wir weniger mit persönlichen Daten zu tun als im Konsumentenbereich. Das Problem sehe ich allerdings auch. Der Datenhunger ist immens, wir müssen aber verantwortlich und sicher damit umgehen. Wichtig ist dabei, dass die Datenfreigabe bewusst erfolgt, also welche Daten ganz verfügbar gemacht werden, welche anonymisiert und welche gar nicht. Manchmal ist aber auch die Einstellung der Gesellschaft schwierig. Einerseits machen wir uns in den sozialen Medien selbst völlig transparent, aber beim Smart Meter sehen wir plötzlich ein Problem – und lehnen die Analyse von diesen intelligenten Stromzählern dann ab.
Ein wichtiger Bereich der Digitalisierung ist auch Mindsphere, ihre Plattform für die Industrie4.0. Wie läuft es?
Es gibt bislang einen Wildwuchs an Plattformen, deswegen haben wir Mindsphere als Betriebssystem platziert, auf dem die anderen aufbauen. Das ist so ähnlich wie mit Handys, da gibt es wenige Betriebssysteme, aber dann ganz viele Applikationen. Und wir zielen darauf ab, dass auf Mindsphere bis Ende des Jahres 300 Anwendungen verfügbar sein werden.
Wie sehen Sie die Chancen, dabei eine dominierende Plattform aus Europa zu etablieren?
Ich denke, bei diesen Kern-Betriebssystemen wird es nicht beliebig viele geben. Und wir haben da eine sehr gute Position. Das B2B-Geschäft ist auch eine andere Welt als die Plattformen für Endnutzer. Wenn sich Geschäftskunden auf eine Plattform einlassen, wollen sie auch sicher sein, dass sie übermorgen noch überlebt. Derzeit sind bereits über eine Million Geräte und Systeme von Siemens über Mindsphere angeschlossen, Tendenz steigend. Wir haben in den letzten Jahren über zehn Milliarden in die Digitalisierung investiert – heute ist Siemens die klare Nummer eins in der Automatisierung und gehört zu den zehn größten Softwarefirmen der Welt.
Ihre Start-up-Einheit next47 will in fünf Jahren eine Milliarde investieren.Wie viel war es im Vorjahr?
Wir haben jetzt erst mal die Strukturen aufgebaut. 2017 hat next47 sieben neue Investments und acht Finanzierungsrunden abgeschlossen. Das ist ein guter Fortschritt. Es geht aber nicht nur darum, sondern es hilft uns auch, zu wissen, was auf dem Markt passiert. Dabei haben wir schon einige hundert Firmen angeschaut – es ist wie im Märchen: Man muss viele Frösche küssen, bevor man den Prinzen gefunden hat.
Roland Busch, 1964 in Erlangen geboren, bis heute einer der großen Siemens-Standorte, arbeitet seit 1994 für den Konzern. Der promovierte Physiker wurde 2011 in den Vorstand berufen und verantwortet als Chief Technology Officer große Teile der Forschung und Entwicklung in dem Industrieunternehmen. Siemens ist mit rund 380 000 Mitarbeitern auf den Feldern Automatisierung, Elektrifizierung und Digitalisierung tätig. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete das Unternehmen 83 Milliarden Euro Umsatz und erreichte einen Gewinn nach Steuern von 6,2 Milliarden Euro.