Amazon ist der Krisengewinner: Wie Gewerkschaften versuchen, bei dem US-Konzern Fuß zu fassen
Seit acht Jahren will Verdi das Amazons-Management zu Tarifverhandlungen zu bewegen. In der Pandemie zahlt das Unternehmen höhere Löhne.
Bei diesem Klassenkampf geht es ums Prinzip. Amazon will keine Gewerkschaften im Haus haben, Verdi möchte verhindern, dass das Verhalten des US-Konzerns Schule macht: Wenn allein die Arbeitgeber über Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer entscheiden, dann braucht es keine Gewerkschaften. Seit acht Jahren bemüht sich Verdi um einen Tarifvertrag für die derzeit 16 000 Amazon-Beschäftigten in 15 Versandzentren. Rund um den so genannte Black Friday beteiligten sich nach Verdi-Angaben 2500 Beschäftigte an Streiks. „In den kommenden Wochen haben wir noch einiges vor“, sagt Orhan Akman, der in der Gewerkschaft für den Versandhandel zuständig ist.
Damit sich der Konzern nicht vorbereiten kann, werden Streiks kurzfristig angesetzt. Die Nadelstiche nerven und haben in den vergangenen Jahren auch zu höheren Löhnen beigetragen, die der Konzern sozusagen freiwillig zahlt. „In den Spitzenzeiten arbeiten sie gerne mit Prämien oder Bonuszahlungen“, sagt Akman im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Und in den Zeiten, in denen Streik droht.“ Im ersten Lockdown gab es zwei Euro in der Stunde extra. Aber nur bis Mai. „Die Leute waren sauer, als die Coronaprämie wieder abgeschafft wurde“, erzählt Akman und hofft auf rege Streikbeteiligung in den kommenden Tagen.
Stundenlohn bei zwölf Euro
„Amazon ist ein fairer Arbeitgeber“, heißt es bei Amazon. „Die Logistikmitarbeiter erhalten ein wettbewerbsfähiges Lohnpaket.“ Je nach Standort liegt der Stundenlohn zwischen 11,30 Euro und 12,70 Euro. Nach zwölf Monaten und zwei Jahren steigt der Lohn automatisch auf dann 2600 Euro brutto. Amazon stellt die Versandzentren gerne auf die grüne Wiese in strukturschwachen Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit. „Wer lange erwerbslos war und nun 1500 oder 1800 Euro netto bekommt, der ist erstmal froh“, sagt der Gewerkschafter Akman.
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Amazon bemüht sich um seine Leute. Neben den zwei Euro extra von Mitte März bis Ende Mai gab es damals einen zusätzlichen Überstundenzuschlag von 100 Prozent. „Und als Dankeschön kam für Versandmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in Vollzeit ein weiterer Bonus von 500 Euro für Juni 2020 hinzu“, teilt Amazon mit. Der Konzern kann es sich leisten. Im vergangenen Quartal hat sich der Gewinn auf 5,4 Milliarden Euro verdreifacht. Im Weihnachtsquartal wird der Profit noch größer ausfallen. Der Online-Händler ist der große Coronagewinner, der Aktienkurs stieg in diesem Jahr um gut 60 Prozent.
10 000 zusätzliche Kräfte für das Weihnachtsgeschäft
„Die Krise im stationären Handel, der von der Pandemie betroffen ist, spielt Amazon in die Karten, denn sie haben jetzt keine Probleme, Arbeitskräfte für das Weihnachtsgeschäft zu bekommen“, sagt Akman. Rund 10 000 zusätzliche Kräfte stellt Amazon in der Vorweihnachtszeit ein. Bis auf ein paar Ausnahmen scheinen die Hygienekonzepte in den Versandzentren zu greifen. Massenhaften Coronainfektionen gab es bislang in Graben bei Augsburg, wo nach Verdi- Angaben rund 300 der 1800 Beschäftigten an Covid-19 erkrankten, und in Koblenz wo sich von 2800 Beschäftigten 300 infizierten. „Der stationäre Handel wird streng reguliert und darf nur begrenzt Leute in die Geschäfte lassen, aber bei Amazon läuft alles ganz normal weiter in den Versandzentren“, ärgert sich Akman. „Wir haben Bilder gesehen, wo es schlimm aussah, zum Beispiel in Sanitätseinrichtungen in Augsburg.“ Amazon wiederum wirft der Gewerkschaft "bewusste Täuschung der Öffentlichkeit" vor. Die Infektionszahlen zu Graben würden "hinten und vorne nicht stimmen". Seit Beginn der Pandemie "haben wir weltweit Vorkehrungen getroffen, um unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schützen und im Zuge dessen mehr als 150 Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt."
In Frankreich fordert ein Bündnis aus linken Politikern, Gewerkschaftern und Umweltschützern, die von Amazon vertriebenen Waren in der Corona-Krise mit einer Sondersteuer zu belegen. Unter den 120 Unterzeichnern der von Attac initiierten Aktion sind auch Buchhändler und Verlage. Amazon verursache soziale Verwerfungen und schade der Umwelt, kritisierten die Unterzeichner. Mit der Sondersteuer könnten Maßnahmen zur Sicherung von Arbeitsplätzen und der Stützung des stationären Einzelhandels finanziert werden. Hierzulande ist der Philosoph Richard David Precht mit der Forderung einer Steuer von 25 Prozent auf Online-Waren bislang ein einsamer Rufer.
Mitglied im deutschen Handelsverband
Für Akman wäre erstmal wichtig, dass Amazon Steuern zahlt. Der Konzern nutze hierzulande die Infrastruktur und die Vermittlungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit, beteilige sich aber nicht an der Finanzierung des Gemeinwesens. „Die haben zu viel Geld und setzen die Maßstäbe für die Digitalisierung des Handels“, sagt Akman. Für den Einzelhandelsverband HDE, der wegen des erneuten Lockdowns die Pleite von 50 000 Händlern in den Innenstädten befürchtet, und der Amazon in seinen Kreis aufnahm, hat der Gewerkschafter kein Verständnis. „Es ist verrückt, dass sich der HDE den mächtigsten Widersacher des stationären Einzelhandels ins eigene Haus geholt hat, und das auch noch mit einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung.“
Amazon gliedert die Versandzentren in sechs Kategorien. „Sortable“ sind bis zu 74 000 Quadratmeter große Häuser mit 1500 Beschäftigten, die Bücher, Spielwaren und Haushaltswaren zusammenstellen, verpacken und verschicken. „Häufig arbeiten sie dabei mit der Technologie von Amazon Robotics zusammen, erwerben dadurch neue Kompetenzen“, heißt es bei Amazon. In den etwas kleineren „Non-Sortable“-Logistikzentren kümmern sich bis zu 1000 Personen um größere Artikel wie Gartengeräte, Outdoor-Ausrüstungen oder Teppiche.
In den Sortierzentren werden Kundenbestellungen zur schnelleren Lieferung nach den Bestimmungsorten sortiert und auf Lkws verteilt. „Receive“-Zentren nehmen große Mengen an Waren an, für die eine hohe Nachfrage herrscht. In „Speciality“-Zentren werden spezielle Kategorien von Artikeln bearbeitet, die zu bestimmten Zeiten besonders stark nachgefragt werden. Schließlich gibt es die Verteilzentren, in denen die Zustellung auf der „letzten Meile“ organisiert wird. „Die Sicherheit und Gesundheit unserer Mitarbeiter hat für uns oberste Priorität“, heißt es bei Amazon.
Hohe Arbeitsbelastung
„Die Digitalisierung erhöht die gesundheitliche Belastung der Kolleginnen und Kollegen“, argumentiert der Gewerkschafter Akman dagegen. „Durch die Algorithmen und den Einsatz Künstlicher Intelligenz wird die Arbeit immer eintöniger: Über das Headset werden die Beschäftigten gesteuert und mit Kameras kontrolliert.“
Verdi will deshalb auch den Arbeits- und Gesundheitsschutz in einem Tarifvertrag regeln. „Es geht uns nicht nur um Löhne, sondern auch um Freiräume am Arbeitsplatz“, sagt Akman. Der Frust über die Arbeitsbelastung gerade in diesem Jahr sei „massiv“. Und wird doch auch 2020 nicht ausreichen, um so viel Druck auf die Straße zu bringen, dass sich der US-Konzern überhaupt auf Tarifverhandlungen einlässt. „Wir sind immer gut für eine Überraschung“, macht sich Akman Mut für den Klassenkampf in den kommenden Monaten und Jahren.
Alfons Frese