Allianz-Chef Diekmann: "Wer zu viel will, hat am Ende gar nichts"
Sollte Deutschland eine eine Transaktionssteuer an der Börse einführen, will Allianz-Chef Michael Diekmann die Geschäfte über London abwickeln. Mit dem Tagesspiegel spricht er auch über Anspruchsdenken und die Vorteile der Großfamilie.
Herr Diekmann, in Deutschland gibt es immer mehr alte und immer weniger junge Menschen. Steuern wir auf den Bankrott der Sozialsysteme zu?
Im Moment decken die Versicherungssysteme noch genau den Bedarf ab. Die Rente mit 67 zeigt aber, dass das System bald nicht mehr ausreicht.
Reicht die Rente mit 67?
Ob 67 oder 68, das ist im Grunde nicht der Punkt. Es geht darum, wie viele Jahre man in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen muss, um sich die Rente verdient zu haben. Wenn die Leute früher anfangen würden zu arbeiten, dann könnten wir auch bei der Rente mit 65 bleiben. Das Problem der Überalterung unserer Gesellschaft liegt aber besonders in der Kranken- und in der Pflegeversicherung. Wir haben einen enormen medizinischen Fortschritt. Das ist gut, aber es treibt die Kosten in die Höhe, und es führt uns zu einer Frage, mit der wir in Deutschland ein großes Problem haben: Wie lange können die alten Leute in vollem Umfang vom medizinischen Fortschritt profitieren? Das ist eine ethische Frage. Und eine finanzielle. Denn wenn man die volle lebenslange Versorgung will, müssen die Krankenversicherungsbeiträge enorm steigen, und man müsste dafür Rückstellungen bilden.
Man könnte auch darüber nachdenken, die Leistungen einzuschränken.
Es gibt Möglichkeiten, die Krankenversicherung enorm zu verbilligen. Man könnte zum Beispiel sagen, die Solidargemeinschaft soll nicht für die zahlen, die sich unvernünftig verhalten. Aber wo wollen Sie die Grenze ziehen? Soll man Rauchern keine Behandlung gegen Lungenkrebs mehr bezahlen und was passiert, wenn diese dann die Kosten nicht selbst tragen können? In unserem Sozialstaat landen wir am Ende immer wieder da, dass die Kosten doch irgendwie übernommen werden, wir können gar nicht anders. Die Menschen müssen jetzt aber endlich einsehen, dass es eine gesellschaftliche Solidarität gibt, sie Teil eines großen Ganzen sind und sich dementsprechend verhalten. Die Zeiten, in denen jeder individuell versuchen konnte, seine Lage zu optimieren, sind vorbei.
Aus dem Mund des Chefs des größten europäischen Versicherers, der private Vorsorge anbietet, klingt das komisch.
Gar nicht. Versicherungen waren ursprünglich nichts anderes als Solidargemeinschaften. Daraus hat sich im Laufe der Zeit eine Gesellschaft mit Anspruchsdenken entwickelt. Viele Leute sagen, sie wollen das wieder herausbekommen, was sie eingezahlt haben. Versicherungsbetrug gilt als Kavaliersdelikt. Den Menschen muss aber bewusst sein, dass sie damit die Kosten für alle anderen Kunden in die Höhe treiben. Es gibt Versicherungssparten, da könnte man 15 Prozent der Beiträge sparen, wenn nicht so viele Kunden betrügen würden. Mangelnde Solidarität sprengt jedes Sozialsystem.
Tut die Politik genug?
Wir haben eine merkwürdige Situation. Die einen sagen, es sei gar nicht so schlimm, wenn die Bevölkerung – wie prognostiziert – bis zum Jahr 2050 auf 65 Millionen schrumpft, weil der Produktivitätszuwachs zu einer ausreichenden Finanzierung führt und weniger Leute auch weniger Kosten produzieren. Das mag auf kurze Sicht stimmen, aber der Prozess beschleunigt sich, und irgendwann sind wir nur noch 50 Millionen Deutsche und davon sind 40 Millionen alt. Die Politik denkt in zu kurzen Zeitabständen. Das ist unverantwortlich. Ich kann doch auch nicht sagen, künftig gibt es weniger Kinder, also kann ich an der Bildung, an Schulen und an Lehrern sparen.
Warum nicht?
Die junge Generation ist flüchtig. Wir haben viele gut ausgebildete Leute. Wenn die mitkriegen, was auf sie zukommt, kann es gut sein, dass sie Deutschland verlassen und ins Ausland gehen.
Familienministerin Schröder will die Familien stärken, um dem demografischen Wandel zu trotzen. Ist das richtig?
Das ist im Prinzip gut, aber man muss berücksichtigen: Jede dritte Ehe wird geschieden, Tendenz steigend. Wir haben immer mehr Singles und Patchworkfamilien. Es ist verheerend, wenn man seine Zukunftspläne auf Prämissen aufbaut, von denen man jetzt schon weiß, dass sie nicht stimmen. Ich würde mir von der Politik eine ehrliche Demografiebilanz wünschen, aber die gibt es nicht. Stattdessen wimmelt es vor Analysen, die sich widersprechen.
"Deutschland und Frankreich können vorpreschen"
Zumindest in einem Punkt sind sich alle einig: Deutschland braucht mehr Kinder. Würde ein höheres Kindergeld helfen?
Höheres Kindergeld setzt die falschen Anreize, und Geld löst nicht das Problem. Außerdem ist es begrenzt. Es sei denn, wir denken uns Modelle aus wie die Kapitalbildung, bei der ein Kapitalstock angespart wird, der Erträge abwirft und so Mehrwert schafft. Aber die eigentliche Lösung, um den Geburtenrückgang zu stoppen, wäre die Großfamilie, in der Großeltern, Eltern und Kindern zusammenleben.
Sie haben die Kapitaldeckung als mögliches Finanzierungsmodell genannt. Aber erleben wir nicht gerade, dass die Schuldenkrise und die Niedrigzinsen die Kapitaldeckung an ihre Grenzen treibt?
Die Allianz ist in der glücklichen Situation, dass sie über einen sehr langen Zeitraum einen sehr großen Kapitalstock aufgebaut hat und Reserven für solche Phasen aufgebaut hat. Je größer der Verbund und je älter der Bestand, desto besser kann man längere Dellen durchhalten. Trotzdem ist die Verzinsung heute weit von dem entfernt, was sich jemand, der vor 25 Jahren eine Lebensversicherung abgeschlossen hat, erwartet und hochgerechnet hat. Wenn man nur in Bundesanleihen investieren würde, müsste man heute Geld mitbringen, um sein Kapital – für kurze Zeit – anzulegen. Aber es gibt ja auch noch andere Anlagemöglichkeiten.
Zum Beispiel?
Investitionen in Infrastrukturprojekte. Da gibt es Zinssätze von neun Prozent. Für die Energieunternehmen ist das unattraktiv, weil ihre Kapitalkosten immer noch über den Erträgen liegen würden, aber für Versicherer, die Kapital anlegen können und wollen, ist das eine gute und sichere Anlage. Aber das ändert nichts daran, dass die künstlich niedrig gehaltene Verzinsung aus unserer Sicht ein Ende haben sollte. Das viele billige Geld hat uns schon einmal in die Krise getrieben, indem es zu Blasen geführt hat. Eine der größten Volkswirtschaften, Japan, ist daran beinahe zerplatzt. Im Moment betreiben wir schon wieder eine Politik des billigen Geldes. Das soll das Wirtschaftswachstum fördern, obwohl wir genau wissen, dass das nur zu Fehlsteuerungen führt und zu gefährlichen Blasen.
Frankreich will mit einer Finanztransaktionssteuer Spekulationen eindämmen, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Sympathien für dieses Instrument. Die Allianz ist einer der größten Anleger der Welt. Was sagen Sie dazu?
Die Finanztransaktionssteuer wäre nicht gut, wenn sie nur in Deutschland oder Frankreich eingeführt werden würde, aber nicht in London oder New York.
Dann würden Sie Ihre Geschäfte über London abwickeln?
Ja. Ich verstehe aber sehr gut, dass die Politik dem Computerhandel, wo die Transaktionen in Millisekunden erfolgen, nicht traut, weil er auch negative Entwicklungen auf den Kapitalmärkten beschleunigt. Aber dann sollten Frau Merkel und Herr Sarkozy die Steuer auf den Computerhandel beschränken. Wenn man das macht, können Deutschland und Frankreich ruhig vorpreschen. Wer ein Problem erkannt hat, kann ruhig auch mal vorgehen – aber es sollte in einem vernünftigen Rahmen sein. Wer zu viel will, hat sonst am Ende gar nichts, weil sich die vermeintlichen Milliardeneinnahmen verflüchtigen und woanders hingehen.
Das Interview führte Heike Jahberg.
DER VORSTAND
Michael Diekmann (57) ist seit 2003 Vorstandschef des Allianz-Konzerns. Sein Start ins Berufsleben sah jedoch zunächst anders aus. Der gebürtige Braunschweiger studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Jura, verdiente dann sein Geld mit einem Verlag für Reiseliteratur. 1988 ging er zur Allianz nach Hamburg – zunächst in den Vertrieb. Später wurde er nach weiteren Stationen Leiter des Asiengeschäfts in Singapur. Diekmann ist verheiratet und hat vier Kinder.
DER KONZERN
Die Allianz ist Europas größter Versicherer und gehört weltweit zu den fünf größten Vermögensverwaltern. 2010 verdiente der Konzern 5,2 Milliarden Euro. Die Zahlen für 2011 werden im Februar veröffentlicht.