Zukunftsvision der finnischen Ministerpräsidentin: Was für die Vier-Tage-Woche spricht und was dagegen
Nur noch vier Tage in der Woche arbeiten - manche Experten halten die Debatte für überfällig. Andere nennen die Idee realitätsfern. Eine Analyse.
Die finnische Premierministerin Sanna Marin dachte im vergangenen Sommer öffentlich über eine Vier-Tage-Woche nach. „Ich glaube, die Menschen haben es verdient, mehr Zeit mit der Familie, ihren Liebsten, Hobbys und anderen Aspekten des Lebens wie der Kultur zu verbringen“, sagte Marin – damals noch Verkehrsministerin. Das könnte der „nächste Schritt“ im Arbeitsleben sein. Die finnische Regierung stellte jetzt zwar klar, dass die Vier-Tage-Woche kein Bestandteil des neuen Regierungsprogramms sei, sondern nur eine Idee, die Marin auf einer Podiumsdiskussion geäußert habe. Trotzdem hat die Meldung eine Debatte entfacht. Auch in Deutschland.
Was spricht für eine kürzere Arbeitswoche?
Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, macht sich schon länger für eine 32-Stunden-Woche stark. „Arbeit ist in unserem Land noch immer sehr ungleich verteilt“, sagt sie. Es seien vor allem die Frauen, die sich unbezahlt um Kinder oder kranke Angehörige kümmern. Das bedeute für sie entweder eine starke Doppelbelastung. Oder Frauen würden gering bezahlte Teilzeitjobs annehmen, mit negativen Auswirkungen für ihre Altersversorgung. „Mit der 32-Stunden-Woche würden Männer durchschnittlich etwas weniger pro Woche arbeiten, Frauen etwas mehr“, sagt die Soziologin. „Freiräume täten sich auf, Fürsorgearbeit gerechter zu verteilen – ohne dass die Produktivität unseres Landes zurückgeht.“
Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hält die Diskussion ebenfalls für „überfällig“. „Wir leben in einer zunehmend akademisierten Gesellschaft, die altert, aber nicht produktiver wird“, sagt Brenke. „Wenn wir künftig unsere Sozialsysteme finanzieren wollen, müssen wir langfristig für eine höhere Produktivität sorgen.“ Viele Arbeitsschritte seien ihm zufolge verzichtbar oder durch eine Entbürokratisierung in deutlich weniger Zeit machbar. Unternehmen sollten sich zudem von einer Kontrolle der Anwesenheitszeit hin zu einer Kontrolle von Leistung entwickeln. Eine weitere These lautet: Maschinen und Algorithmen könnten den Menschen Arbeit abnehmen und Muße gewähren.
Welche wirtschaftlichen Risiken gibt es?
Holger Schäfer vom Institut der Deutschen Wirtschaft Köln hält die Idee für „schräg“. Auch wenn es vereinzelte Positivbeispiele gebe, müsse ein solches Modell erprobt und ein positiver Effekt bewiesen werden. „Ich rate da zu großer Vorsicht“, sagt Schäfer. Ihm zufolge sei bei einer flächendeckenden Arbeitszeitverringerung mit einem deutlichen Einbruch des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumens zu rechnen – „eine katastrophale Entwicklung“, sagt Schäfer.
Würden alle Vollbeschäftigten in Deutschland ihre Arbeitszeit von einer 38-Stunden-Woche auf vier Tage zu je sechs Stunden reduzieren, würde das Arbeitsvolumen um rund 22 Prozent sinken. Zum Vergleich: Im Krisenjahr 2009 ging es um 2,8 Prozent zurück. „Das würde ein Fünftel weniger Wohlstand bedeuten, der Staat wäre durch geringere Steuereinnahmen deutlich weniger leistungsfähig, um Menschen zu unterstützen“, warnt Schäfer. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände findet es „realitätsfern, wenn wir in Deutschland über Arbeitszeitverkürzungen per Gesetz nachdenken, obwohl wir einen gravierend anwachsenden Fachkräftemangel haben“.
Wie hängen Arbeitszeit und Produktivität zusammen?
Noch heute ist für viele überraschend, was eigentlich schon zu Zeiten der ersten, einigermaßen sozialverträglichen Arbeitszeitregelungen beobachtet wurde: Die Leistungsfähigkeit pro Zeiteinheit nimmt mit mehr gearbeiteten Zeiteinheiten nicht nur ab. Selbst bei fleißigen Leuten kann die Nettoleistung sogar geringer ausfallen, wenn sie zwölf Stunden im Büro waren statt sechs.
Der bekannte Arbeitspsychologe Anders Ericsson von der Florida State University schließt aus seinen Studien, dass konzentriertes Arbeiten für mehr als vier, maximal fünf Stunden am Stück unmöglich sei. Die Erklärungen sind vielfältig. So zeigen Studien, dass die Leistungsbereitschaft von Körper und Gehirn in biologisch bedingten zyklischen Rhythmen schwankt. Hohe Werte erreicht sie bei den meisten nur für wenige Stunden am Vormittag, Mittag und späten Nachmittag.
Auch das kann nur in voller Ausprägung geschehen, wenn dazwischen Erholungsphasen liegen. Diese nutzt das Gehirn teilweise auch für die Arbeit. Es kann Dinge nachweislich besser abspeichern, Fehler finden, Ideen entwickeln. Nach Meinung von Arbeitspsychologen seien fünf Stunden zudem deutlich übersichtlicher als acht. Sie ließen sich besser verplanen und strukturieren. Außerdem vermittelten sie stärker den Eindruck, dass die Ressource Arbeitszeit begrenzt ist. Zu wissen, dass der Arbeitstag früher endet, könne dazu führen, dass ihn jemand mit einer positiven Einstellung beginnt.
Welche Erfahrungen haben Unternehmen mit Pilotprojekten gemacht?
Microsoft hat seine japanischen Mitarbeiter im August probeweise vier statt fünf Tage pro Woche arbeiten lassen. Jeden Freitag hatten sie frei – mit gutem Ergebnis. Die Produktivität habe sich deutlich erhöht. Zudem seien die Betriebsausgaben gesunken. Weniger Strom, weniger Papier wurde verbraucht. Das neuseeländische Fondsunternehmen „Perpetual Guardian“ hat nach einer erfolgreichen Testphase bereits entschieden, seinen Mitarbeitern dauerhaft freizustellen, einen beliebigen Tag der Woche freizunehmen.
Auch in Deutschland bieten einige Unternehmen den Beschäftigten mehr Freizeit – oder die Freiheit, selbst zu entscheiden, wann und wie lange jemand ins Büro kommt. Lasse Rheingans, Chef einer Bielefelder Digitalagentur, ist zum Beispiel für den Fünf-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich bekannt. Seine Idee: Ist der Arbeitstag von vornherein kürzer, aber dafür mit strafferen Konferenzen, ohne Kaffeepausen, ohne Gedaddel am Smartphone versehen, schaffen die Mitarbeiter das gleiche Pensum. Sie seien außerdem zufriedener und kreativer. Bei der Deutschen Bahn können sich die Beschäftigten zwischen Zeit und Geld entscheiden. 59 Prozent entschieden sich zuletzt für mehr Zeit.
Es gibt auch Gegenbeispiele: Ein schwedisches Start-up ist zum Acht-Stunden-Tag zurückgekehrt, weil die Mitarbeiter ihr Pensum nicht schafften. In einem Altenheim im schwedischen Göteburg wurde von Februar 2015 bis Ende 2016 die tägliche Arbeitszeit der Mitarbeiter auf sechs Stunden reduziert. Auch hier ohne Einschnitte beim Gehalt. Die Mitarbeiter hätten sich besser gefühlt, seien motivierter und seltener krank gewesen, hieß es. Die Stadt Göteborg hat das Pilotprojekt dennoch nicht verlängert. Das Personal musste aufgestockt werden. Es sei zu teuer gewesen.
Was fordern Gewerkschaften?
„Die Finnland-Debatte unterstreicht einmal mehr, welch hohen gesellschaftlichen Stellenwert das Thema Zeit inzwischen hat“, sagt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Die Gewerkschaften in Deutschland hätten mit Wahloptionen in Tarifverträgen längst Antworten auf die neuen Bedürfnisse der Beschäftigten gefunden. Flexibilität bei der Arbeitszeit müssten Betriebe aber noch stärker aus Sicht der Mitarbeiter schaffen. „Dabei erwarten wir politische Unterstützung, um Arbeitszeiten zu begrenzen, selbstbestimmter planen zu können und dabei auch Lernzeiten zu ermöglichen“, sagt Buntenbach.
Wie denken die Parteien?
Die Grünen plädieren seit Jahren für eine flexiblere Zeiteinteilung, „die zum Familienleben im 21. Jahrhundert passt“. Beate Müller-Gemmeke, Sprecherin der Grünen für Arbeitnehmerrechte und aktive Arbeitsmarktpolitik, hält eine kürzere Arbeitswoche für eine Möglichkeit, Beschäftigte besser vor Stress zu schützen. Außerdem könnten sie Erwerbsarbeit und Sorgearbeit besser vereinbaren und gerechter zwischen den Geschlechtern aufteilen. Konkrete politische Forderungen in Richtung einer Vier-Tage-Woche gibt es aber nicht.
Laut Peter Weiß, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sind verkürzte und flexiblere Arbeitszeiten in vielen Branchen auch schon längst Realität. Und was sagt Arbeitsminister Hubertus Heil? „Wir brauchen flexiblere Lösungen im Erwerbsleben, aber keine starren Modelle. Dabei geht es auch um die Frage, welche Regelungen wir für mobiles Arbeiten schaffen.“
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