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Agenda macht Arbeit. „Wer zumutbare Arbeit ablehnt, muss mit Sanktionen rechnen“, sagte Gerhard Schröder am 14. März 2003 bei der Vorstellung seines Reformpakets im Bundestag. Seine 87-minütige Rede war auch in einem Elektronikmarkt zu sehen.
© dpa

Zehn Jahre Schröder-Rede: Was die Agenda 2010 gebracht hat

Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat mit seiner Politik die Gesellschaft gespalten. Deutschlands neue Stärke geht aber nicht nur auf seine Ideen zurück.

Berlin - Angela Merkel lag gehörig daneben. Sie hatte die Situation völlig falsch eingeschätzt, das passiert ihr nicht oft. „Der große Wurf für die Bundesrepublik Deutschland war das mit Sicherheit nicht“, hatte sie in den Bundestag gerufen, kurz nachdem Gerhard Schröder seine Agenda 2010 vorgestellt hatte. Das war im März 2003. Was folgte, ist bekannt: Für Schröder wurde der Auftritt zur Rede seines Lebens. Die damalige Oppositionsführerin Merkel wurde zwar schon bald seine Nachfolgerin – doch sie muss ihr Verdikt von einst bis heute immer wieder korrigieren.

Zehn Jahre ist es her, dass Schröder das wohl einschneidendste Reformpaket der bundesrepublikanischen Geschichte verkündete. Er hat damit ein politisches Erdbeben ausgelöst: Die SPD stürzte in eine Existenzkrise, verlor die Macht und erträgt die Agenda-Politik bis heute mehr, als dass sie sie vertritt. Ihre Machtperspektive schwand zudem mit dem Aufstieg der Linken. Die Agenda hat die Gesellschaft verändert, gilt als Chiffre für Druck, Angst und Ungerechtigkeit. Welchen Anteil Schröders Reformen am Wiederaufstieg Deutschlands haben, ist indes ungeklärt. Seine Sympathisanten sagen, ganz Europa brauche ein solches Programm. Kritiker finden, auch ohne Agenda stünde Deutschland da, wo es heute steht.

Rückblende: Die Bundesrepublik sei „der kranke Mann Europas“, ätzte im Juni 1999 der „Economist“. Vier Millionen Menschen waren arbeitslos, die Wirtschaft wuchs schon seit zweieinhalb Jahren nicht mehr. Arbeit wurde wegen ungebremst wachsender Lohnnebenkosten immer teurer, die Investitionen gingen zurück. Da trat Schröder am 14. März ans Pult des Parlaments. „Weitreichende Strukturreformen“ kündigte er an. Seine Regierung werde „Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“. Die Blaupause hatten zuvor der Rat der Wirtschaftsweisen und die Bertelsmann-Stiftung geliefert.

In den folgenden Monaten legte Rot-Grün die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu „Hartz IV“ zusammen, strich Transferleistungen, lockerte den Kündigungsschutz, deregulierte die Handwerksgesetze, erhöhte die Ausgaben für Familien und Bildung. Der Kern aber war der Paradigmenwechsel auf dem Arbeitsmarkt: Arbeitslosengeld gibt es seither nur noch ein Jahr lang, Jobsuchende müssen jede zumutbare Stelle annehmen. Wer nicht genug verdient, bekommt Geld vom Staat hinzu.

Kurz nachdem Hartz IV, der Kern der Reform, Anfang 2005 in Kraft getreten war, stieg die Zahl der Jobsuchenden auf 5,3 Millionen – ein Rekord. Gut dreieinhalb Jahre später sank sie wieder unter die Drei-Millionen-Marke. Heute sind mit 41,4 Millionen Menschen so viele beschäftigt wie noch nie. „Man wird kaum einen Beweis dafür finden, dass etwas anderes als die Agenda-Politik allein dafür verantwortlich ist, dass Deutschland international so gut dasteht“, sagt Christoph Schmidt, der neue Chef im Wirtschafts-Sachverständigenrat. „Wie widerstandsfähig ein Arbeitsmarkt ist, zeigt sich in der Krise. Erst jetzt sehen wir, wie gut die Reformen wirken.“ Ohne diese Politik „hätte die Beschäftigung längst nicht so deutlich zugenommen“, sagt auch Joachim Möller, Leiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Doch auch Agenda-Skeptiker haben gute Argumente. So ist die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden heute zwar höher als vor 2003 – aber niedriger als noch zu Beginn der neunziger Jahre. Das heißt: Es wird weniger gearbeitet, aber angesichts der gestiegenen Beschäftigung ist die Arbeit auf mehr Schultern verteilt worden.

Als wichtigste Folge der Agenda gilt die Zerfaserung des Arbeitsmarktes, der Trend zu Teilzeit-, Mini-, befristeten Jobs oder Leiharbeit. Doch auch dies ist keine Erfindung Schröders, sondern setzte ein Jahrzehnt zuvor ein. „Die Reformen haben problematische Trends, die es vorher schon gab, verstärkt“, sagt IAB-Mann Möller. Beispiel: die Lohnzurückhaltung. Die Reformen schufen einen Niedriglohnsektor, fast jeder Fünfte arbeitet heute für sehr wenig Geld. Dieser Trend hat der Exportwirtschaft genützt: Sie konnte dank mäßiger Lohnstückkosten immer neue Absatzerfolge feiern – und enorm von der starken Weltkonjunktur profitieren.

Die Gewerkschaften, die noch nie Freunde der Agenda waren, sehen den Grund für Deutschlands Wiederaufstieg woanders – in der Reaktion auf die Krise 2008/2009. Damals gingen weniger Jobs verloren als sonst in einem Abschwung, da die Betriebe flexible Arbeitszeitmodelle pflegten und die Regierung mit Konjunkturprogrammen die Nachfrage stützte. Diese Politik wirke bis heute nach, sagt Gustav Horn vom Wirtschaftsinstitut IMK. „Wenn man von einem Jobwunder sprechen will, dann liegt es hier.“

Geht es nach den Gewerkschaften, muss ein Mindestlohn her, um die Verfehlungen der Agenda zu heilen. Mehr oder weniger alle Parteien streben dies nun an. Doch Ökonomen warnen davor. „Das wäre ein zu großes Risiko“, sagt der Wirtschaftsweise Schmidt. Zu Beginn ließe sich vermutlich eine Lohnuntergrenze finden, die der Beschäftigung nicht schadet, glaubt er. „Später hätten Politiker aber den Anreiz, den Mindestlohn immer weiter in die Höhe zu schrauben, um gewählt zu werden. Das würde viele Erfolge wieder zunichte machen.“

Carsten Brönstrup

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