Jobwunder trotz Krise: Warum die Zahl der Erwerbstätigen wächst
Die deutsche Wirtschaft stottert, doch die Zahl der Erwerbstätigen steigt. Die Dynamik lässt aber auch hier nach - und dann ist da ja noch der Mindestlohn.
Die Krise kommt nicht an. Jedenfalls nicht am Arbeitsmarkt. Während die Wirtschaft knapp an einer Rezession vorbeischrammt und die Volkswirte der großen Institute reihenweise ihre Wachstumsprognosen eindampfen, erreicht die Zahl der Erwerbstätigen ein neues Hoch. 42,9 Millionen Menschen – Arbeitnehmer und Selbstständige – zählte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden im dritten Quartal. Das sind 384.000 Menschen oder 0,9 Prozent mehr als ein Jahr zuvor – und so viele wie noch nie. Zwei Tendenzen lassen sich ablesen: Am ehesten trotzt der Dienstleistungssektor der getrübten wirtschaftlichen Stimmung. Und bei guter Beschäftigungslage schwindet die Bereitschaft zur Selbstständigkeit.
Wie bereits in den Vorquartalen entstand neue Beschäftigung vor allem im Handel, Verkehr und Gastgewerbe (plus 111.000 Menschen/1,1 Prozent). Auch im öffentlichen Dienst, bei Erziehung und Gesundheit fiel das Wachstum mit einem Prozent (plus 97.000) überdurchschnittlich aus. Höher war die Dynamik nur noch bei Unternehmensdiensleistern (plus 1,6 Prozent/89.000 Erwerbstätige). Während die Zahl der Arbeitnehmer zwischen Juli und September zum Vorjahresquartal um 1,1 Prozent auf 38,44 Millionen zunahm, sank die Zahl der Selbstständigen um ein Prozent auf 4,43 Millionen.
Unternehmen planen langfristig
Trotz der internationalen Krisen – etwa durch die gegenseitigen EU-Russland-Sanktionen – stieg auch die Zahl der Beschäftigten in der deutschen Industrie weiter. Mit 0,4 Prozent oder 36.000 allerdings deutlich unterdurchschnittlich. „Die Industrie hält sich angesichts der Lage auf dem Weltmarkt mit Neueinstellungen zurück“, erläutert Simon Junker, Konjunkturexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). „Das kann sich natürlich im kommenden Jahr ändern, wenn – wie derzeit erwartet – die Weltkonjunktur an Fahrt gewinnt.“ Anzeichen dafür, dass die Konjukturdelle weniger tief ist, gibt es bereits. So war die Euro-Zone zuletzt stärker gewachsen als vorhergesagt. Als Reaktion darauf sprang der ZEW-Index, für den institutionelle Anleger befragt werden, im November überraschend um 15,1 auf plus 11,5 Zähler.
„Bei dem kräftigen Beschäftigungsaufbau – trotz der zuletzt eher schlappen Konjunktur – spielt wohl auch eine Rolle, dass die Unternehmen ihren Beschäftigtenstand langfristig planen“, sagt Junker. „Nach Möglichkeit stellen sie qualifizierte Mitarbeiter ein und passen den Arbeitseinsatz bei Bedarf etwa über eine Reduktion der Arbeitszeit an.“ Das heißt, in Zeiten des Fachkräftemangels gucken Personalverantwortliche, was sie an gutem Personal bekommen können, auch wenn sie es nicht unmittelbar auslasten können.
Auswirkung des Mindestlohn unklar
Auch die Bundesagentur für Arbeit betont, dass das deutsche „Jobwunder“ keineswegs auf einem Heer von Mini- und Billigjobbern fuße, wie Kritiker anführen. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stieg im August 2014 auf 30,3 Millionen Menschen. Das sind 479.000 oder 1,6 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Die Zahl geringfügig Beschäftigter hingegen stagniere. Der Erwerbstätigenzuwachs könne also nicht einem nennenswerten Plus bei 450-Euro-Jobs zugeschrieben werden. Unbestreitbar ist jedoch, dass sich die Struktur der Beschäftigten über einen längeren Zeitraum verändert hat. Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung stieg der Anteil von Zeitarbeit, Minijobs, befristeten und Teilzeitstellen an allen Beschäftigungsverhältnissen zwischen 1995 und 2011 von 24 auf 37 Prozent.
DIW-Experte Junker erwartet bei der Zahl der Erwerbstätigen für das Gesamtjahr ein Plus von 0,8 bis 0,9 Prozent. „Im kommenden Jahr wird sich der Beschäftigungsaufbau fortsetzen, aber mit geringerer Dynamik.“ Eine große Unbekannte dabei ist in den Augen vieler Ökonomen der gesetzliche Mindestlohn, der ab 2015 greift. Das DIW unterstellt, dass durch die Einführung der Lohnuntergrenze etwa 100.000 Jobs verloren gehen. In der jüngsten Gemeinschaftsprognose für die Bundesregierung – an der auch das DIW beteiligt war – gehen die Institute sogar von 200.000 Arbeitsplätzen aus.